Der Judas-Code: Roman
Museum«, sagte Gray. »Seit neunzehnhundertfünfunddreißig«, bestätigte Vigor und deutete auf das Baugerüst an der Südseite. »Seitdem werden nahezu ständig Restaurierungsarbeiten durchgeführt, und das nicht
nur an der Außenseite. Als Sultan Mehmet die Kirche in eine Moschee umwandelte, ließ er die christlichen Mosaike verputzen, da sie nicht im Einklang mit dem islamischen Bilderverbot standen. Im Laufe der Jahrzehnte hat man versucht, die kostbaren byzantinischen Mosaike nach und nach zu restaurieren. Gleichzeitig möchte man die islamischen Kalligraphien aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert und die wundervoll verzierten Emporen bewahren. Um einen Ausgleich zwischen diesen teilweise widerstreitenden Interessen zu finden, sind an den Restaurierungsarbeiten zahlreiche Architektur- und Kunstexperten beteiligt. Auch der Vatikan.«
Vigor geleitete Gray über den Vorplatz auf den überwölbten Eingang zu und reihte sich ein in den Strom der Touristen. »Deshalb habe ich jemanden mitgebracht, der sich mit der Restaurierung auskennt und dessen Rat die Kuratoren der Hagia Sophia in der Vergangenheit schon des Öfteren in Anspruch genommen haben.«
Gray erinnerte sich, dass Vigor erwähnt hatte, er habe bereits jemanden auf die Suche nach der goldenen Nadel in diesem gewaltigen byzantinischen Heuhaufen angesetzt.
Als sie sich dem Eingang näherten, fiel Gray ein bärtiger Hüne ins Auge, der sich den Touristenscharen entgegenstellte. Er hatte die Fäuste in die Hüfte gestemmt und musterte forschend die Besucher. Als er Vigor sah, hob er den Arm.
Vigor schob ihn in die Kirche hinein.
Gray folgte ihm auf den Fersen, denn er hatte es eilig, von der Straße wegzukommen, da er nicht wusste, ob die Gildenleute bereits Stellung bezogen hatten. Solange seine Eltern gefährdet waren, wollte er Nasser nicht reizen, denn das hätte dazu führen können, dass der Ägypter Seichans List im Nachhinein durchschaute.
Als er durchs Tor trat, blickte Gray sich zum Vorplatz um. Seichan und Kowalski waren nicht zu sehen. Sie hatten sich gleich nach Verlassen des Hotels getrennt. Seichan hatte sich ein PrepaidHandy gekauft, und Gray hatte sich die Nummer eingeprägt. Das Handy war ihre einzige Kontaktmöglichkeit.
»Commander Gray Pierce«, sagte Vigor, »das ist mein lieber
Freund Balthazar Pinosso, der Dekan der Kunsthistorischen Abteilung der Gregorianischen Universität.«
Grays Hand verschwand in Balthazars Pranke. Der Mann war über zwei Meter groß.
»Balthazar hat im Turm der Winde Seichans Botschaft entdeckt«, fuhr Vigor fort, »und mir geholfen, die Engelschrift zu entziffern. Außerdem ist er mit dem Museumsdirektor der Hagia Sophia befreundet.«
»Das wird sich günstig für uns auswirken«, brummte Balthazar mit Baritonstimme und ging weiter. Er schwenkte den Arm. »Es liegt eine Menge Arbeit vor uns.«
Er trat beiseite und gab den Blick auf das Kircheninnere frei.
Gray stockte der Atem. Vigor klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
Vor ihnen erstreckte sich ein Tonnengewölbe von der Größe einer Bahnhofshalle. In der Höhe schwangen sich zahlreiche Bögen und kleinere Kuppeln zur Hauptkuppel empor. Zu beiden Seiten lagen Emporen. Am beeindruckendsten aber waren nicht die architektonischen Details, sondern das Spiel des Lichts im Raum. In die Wände und den unteren Rand der Kuppeln waren Fenster eingelassen, und der einfallende Sonnenschein wurde von smaragdgrünem und weißem Marmor und goldverzierten Mosaiken reflektiert. Die schiere Größe des leeren Raums, der ohne Innensäulen auskam, war einfach überwältigend.
In ehrfürchtigem Schweigen folgte Gray den beiden Männern durchs lang gestreckte Kirchenschiff.
In der Mitte der Kirche blickte er zum Kuppelgewölbe auf, das zwanzig Stockwerke in die Höhe reichte. Die gerippte Oberfläche war mit goldener und purpurfarbener Kalligraphie verziert. Am unteren Rand ließen vierzig Bogenfenster den morgendlichen Sonnenschein herein, was den Eindruck erweckte, die Kuppel schwebe in der Luft.
»Man meint, sie wäre schwerelos«, murmelte Gray.
Balthazar stellte sich neben ihn. »Eine optische Täuschung«, erklärte der Kunsthistoriker und zeigte in die Höhe. »Sehen Sie die Grate an der Unterseite des Dachs, die an die Rippen eines Regenschirms erinnern? Die verteilen das Gewicht um die Fenster
herum auf die Strebebögen, die auf massiven Fundamentpfeilern ruhen. Außerdem ist das Dach leichter, als es scheint, denn beim Bau wurden
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