- Der Jünger des Teufels
die Leichen sah, wusste ich sofort, dass wir es mit einem … nun,
außergewöhnlichen Fall zu tun hatten.«
»Fahren Sie fort.«
»Die Bäuche der Leichen waren aufgeschlitzt und die inneren
Organe entfernt worden, und der Täter hat versucht, seine Opfer nach der
Ermordung zu verbrennen. Zwischen den Leichen lag ein Holzkreuz – leider ohne
Fingerabdrücke. Das alles stimmt mit Gemals Mordmethode überein. Durch den
Rauch des Feuers wurde der Feueralarm ausgelöst. Wir wissen nicht, wie der
Killer sich Zugang zum Palast verschafft und wie er die Opfer dorthin gebracht
hat. Möglicherweise hat er den Palast durch einen Eingang betreten, der von den
Touristen normalerweise nicht benutzt wird, aber sicher sind wir nicht. Auf
jeden Fall wies bei diesen Morden so vieles auf Gemals Handschrift hin, dass
ich sofort an einen Nachahmer dachte.«
Erneut durchlief es mich eiskalt. Die Übereinstimmung mit den
Morden in Virginia und Paris war nicht zu übersehen.
»Deshalb habe ich heute Morgen Gemals Schwester Yeliz
angerufen, die das Massaker damals überlebt hat, und sie gefragt, ob sie
jemanden kenne – einen Freund oder Verwandten –, der ihrem Bruder nahe stand oder
ihn bewundert haben könnte. Auf diese Weise hoffte ich, auf eine Spur zu
unserem Nachahmer zu stoßen.«
Ich hatte Gemals Schwester niemals kennen gelernt, daher haftete
dieser Frau für mich etwas Geheimnisvolles an. Sie hatte sich geweigert, die
Reise von Istanbul auf sich zu nehmen, um als Zeugin auszusagen, und war nicht
zum Prozess erschienen.
»Was hat Yeliz gesagt?«
»Das war wirklich sehr sonderbar …«
»Sagen Sie schon.«
Uzuns nächste Worte erschreckten mich zutiefst. »Yeliz
stand unter Schock. Sie behauptete, ihr toter Bruder habe sie angerufen.«
74.
Ich war wie gelähmt. »Aber das ist doch absurd!
Gemal ist tot. Ich war bei der Hinrichtung dabei!«
»Ich weiß, es klingt unglaublich, und ich zweifle keine Se kunde an seinem
Tod«, sagte Uzun. »Doch Yeliz behauptete steif und fest, der Anrufer habe die
Stimme ihres Bruders gehabt.«
»Und was hat dieser Anrufer gesagt?«
»Er behauptete, Gemal zu sein, und dass er nach Istanbul
zurückgekehrt sei, weil er sich um einige unerledigte Geschäfte kümmern müsse
und Yeliz sehen wolle. Genau das soll er gesagt haben.«
Die Adern in meinen Schläfen pochten, und ich spürte, dass sich
starke Kopfschmerzen ankündigten. »Was für Geschäfte?«
Uzun schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht gesagt. Aber
wer immer es gewesen sein mag, er hatte offenbar die Absicht, Yeliz einen
Schock zu versetzen. Dabei verliert sie nicht so schnell die Nerven. Diese Frau
ist intelligent und hart im Nehmen. Obwohl ihr Bruder ein bestialischer Mörder
ist, steht sie mit beiden Beinen im Leben. Doch der Anruf hat sie zutiefst
erschüttert und verwirrt.«
»Was hat der Anrufer noch gesagt?«
»Yeliz war dermaßen schockiert, dass sie sich an nichts
anderes erinnerte. Sie sagt, das Gespräch habe kaum eine Minute gedauert, ehe
der Anrufer auflegte. Er sprach Englisch mit amerikanischem Akzent, genau wie
ihr Bruder.«
»Sie war sich ganz sicher, dass die Stimme sich wie die von
Gemal anhörte?«
»Das habe ich sie auch gefragt. Sie sagte, sie habe seit
mindestens zehn Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Daraufhin fragte ich sie,
warum sie sich dann so sicher sei. Aber sie blieb dabei. Sie war überzeugt,
dass es Constantines Stimme war.«
»Ich würde gerne mit ihr sprechen.«
Uzun zuckte mit den Schultern. »Ich könnte sie fragen. Aber
die Frau ist dermaßen fertig, dass Sie sich nicht wundern sollten, wenn sie
ablehnt.«
»Sagen Sie ihr, wer ich bin. Sagen Sie ihr, dass ich sie unbedingt sehen muss. Bitte, reden Sie ihr gut zu, Ahmet.«
»Ich werde es versuchen.«
Wir fuhren über eine Brücke und an einem türkischen Badehaus
vorbei. Vor einem Gebäude mit einer massiven Eichentür, über der ein Schild mit
einer roten Aufschrift auf Türkisch hing, hielt Uzun. »Wo sind wir?«, fragte
ich.
»Hier ist die Gerichtsmedizin.« Wir betraten das Gebäude durch
die Eichentür und gingen einen langen, sterilen Gang hinunter, der mit
schachbrettartig angeordneten blau-weißen Kacheln verkleidet war.
Mir war bekannt, dass die Toten in muslimischen Ländern schnell
begraben wurden, normalerweise bis Sonnenuntergang, spätestens am nächsten Tag.
Auch wenn es befremdlich klingen mag, so wurden nicht in allen Mordfällen
Autopsien vorgenommen, und mitunter gab es nur flüchtige Untersuchungen der
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