- Der Jünger des Teufels
begraben.
Noch immer saß ich vor Randys schwarzem Monitor. Ich kannte
mich mit der Phantombild-Software aus und hatte mehrfach damit experimentiert.
Ohne lange zu überlegen, kopierte ich die Datei, die Randy unter PHANTOMIMG819K
abgespeichert hatte, und öffnete sie. In demselben Augenblick klingelte mein
Handy. Ich meldete mich. »Moran?«
»Kate, hier ist Frank.«
Es war mein Bruder. Aufgrund schwerer Alkoholprobleme arbeitete
er seit achtzehn Monaten nicht mehr beim FBI. Ich hatte auf jede erdenkliche
Weise versucht, ihm zu helfen, wie viele seiner ehemaligen Kollegen auch. Doch
trotz wiederholter Entziehungskuren schaffte er es nicht, die Finger vom
Alkohol zu lassen. Vor zwei Wochen hatte ich ihn angerufen, um mich zu erkundigen,
wie es ihm ging, doch er hing schon wieder an der Flasche. Wenn Frank betrunken
war, konnte man kein vernünftiges Wort mit ihm wechseln, und nach einem
unsinnigen Gespräch hatte ich aufgelegt. Heute hörte er sich nüchtern an.
»Willkommen im Land der Lebenden«, sagte ich.
»Bevor du wieder auf mich einprügelst, Kate, möchte ich dir
sagen, dass es mir leid tut. Ich hab mich wieder wie ein Idiot benommen.«
»Du warst betrunken.«
»Ja, und jetzt bin ich nüchtern.«
»Für wie lange, Frank? Eines Tages bringst du dich um. So kann
es nicht weitergehen. Du musst endlich die Kurve kriegen. Allen Menschen, die
sich um dich sorgen, brichst du das Herz, und das weißt du.«
»Ja, ich weiß.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Ich versuche, vom Trinken loszukommen«, erwiderte Frank leise.
»Das sagst du immer. Es wird Zeit, dass du mal ernst machst,
sonst ist es bald zu spät.« Manchmal hätte man meinen können, Frank und ich
probten eine Szene eines Katastrophenfilms. Ich stellte mir vor, wie er auf dem
Dach eines brennenden Hauses stand und die Flammen seinen Hintern umzüngelten.
Ich saß in einem Hubschrauber, der über dem Haus schwebte, warf ihm ein Seil
hinunter und rief ihm zu, er solle sich festhalten, worauf er antwortete: »Ich
muss erst darüber nachdenken.«
Frank schwieg. Er hatte sich meine Predigten schon tausend Mal
angehört, und ich hielt ihm immer wieder Standpauken, weil ich ihn liebte. »Und
was tust du dagegen?«
»Ich kämpfe gegen die Dämonen an, Kate, glaub mir. Es ist nur
so, dass ich … manchmal, wenn ich ein Problem nicht bewältigen kann, rutsch ich
ab.«
Wenn Frank nüchtern war, wurde er in der Regel rührselig, und
so hörte er sich auch jetzt wieder an. Es war sinnlos, ihm eine Standpauke zu
halten. »Warum hast du angerufen?«
»Ich muss mit dir reden, Kate. Ich wäre dir dankbar, wenn
du zehn Minuten Zeit für mich hättest.«
»Worüber willst du reden?«
»Nicht am Telefon. Könntest du im Laufe des Tages bei mir vorbeikommen?«
»Frank, falls du mit deinen Rechnungen im Rückstand bist, werde
ich dir kein Geld mehr leihen, und das ist mein letztes Wort. Du musst endlich
lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und die Verantwortung für das Chaos deines
Lebens selbst zu übernehmen. Ich habe keine Lust mehr, mir dein Gejammer von wegen
›Ich armes Schwein‹ anzuhören.«
Vor sechs Monaten hatte ich Frank fünftausend Dollar
geliehen, damit er Schulden begleichen konnte. Die Hälfte hatte er zurückgezahlt,
doch die andere Hälfte bereitete Probleme.
»Es geht nicht um Geld, Kate. Ehrenwort. Und es dauert auch
nur fünf Minuten.«
Ich seufzte. »Wir haben heute Nachmittag eine Besprechung. Es
wird spät. Wahrscheinlich komme ich so gegen sechs.«
»Danke. Bis nachher, Schwesterherz.«
Ich schaltete mein Handy aus, wandte mich wieder dem Computer
zu und veränderte mit Hilfe der Software das unscheinbare Gesicht des
Verdächtigen. Zuerst machte ich die Wangen fülliger und veränderte die Frisur;
dann ersetzte ich die dunkle Haarfarbe durch verschiedene Grau- und Brauntöne.
Ich stattete den Verdächtigen mit einem Bart aus, entfernte ihn wieder und
verpasste ihm Bartstoppeln. Ich spielte mit der Software und hoffte auf eine
Erleuchtung, auf irgendeine Auffälligkeit in dem Gesicht. Bald hatte ich den
Verdächtigen erheblich verändert, und als ich auf den Monitor schaute, begann
ich zu frösteln. Mir schoss eine Frage durch den Kopf. Hatte ich unbewusst
meine eigenen Vorstellungen vom Mörder auf den Monitor projiziert, oder hatten
meine spielerischen Manipulationen des Phantombilds tatsächlich Erfolg
gebracht? Indem ich einige wesentliche Parameter verändert und den Unbekannten
mit neuer Frisur, anderer
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