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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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nicht die Rachsucht und nicht das Recht zu protestieren haben meine »Idee« hervorgerufen; schuld an allem ist einzig und allein mein Charakter. Von meinem zwölften Jahre an, glaube ich, das heißt fast von der Zeit an, wo das richtige Bewußtsein erwacht, konnte ich die Menschen nicht mehr leiden. Nicht eigentlich, daß ich sie nicht leiden konnte, aber der Verkehr mit ihnen wurde mir lästig. Es war mir in Augenblicken reiner Empfindung manchmal selbst überaus schmerzlich, daß ich nicht einmal denen gegenüber, die mir nahestehen, alles aussprechen kann (das heißt, ich könnte es wohl, aber ich will es nicht; ich halte mich aus einem mir selbst unklaren Grund zurück), und daß ich so mißtrauisch, mürrisch und schweigsam bin. Und ferner habe ich schon lange, fast seit meiner Kindheit, bei mir noch einen anderen Charakterzug bemerkt: daß ich zu häufig Beschuldigungen aufbringe, zu sehr geneigt bin, andere Leute zu beschuldigen; aber auf die Betätigung dieser Neigung folgte sehr oft unverzüglich ein anderer, mir besonders peinlicher Gedanke: ›Tragen vielleichtnicht sie die Schuld, sondern ich selbst?‹ Und wie oft beschuldigte ich mich ohne Grund! Um nicht solche Fragen beantworten zu müssen, suchte ich natürlich die Einsamkeit. Überdies habe ich, sosehr ich mich auch bemühte (und ich habe mich wirklich bemüht), an der Gesellschaft der Menschen nichts finden können; wenigstens erwies sich, daß alle meine Altersgenossen, alle meine Kameraden in ihrer Denkweise unter mir standen; ich besinne mich auf keine einzige Ausnahme.
    Ja, ich bin finster und verstecke mich fortwährend. Ich hege oft den Wunsch, aus der menschlichen Gesellschaft auszuscheiden. Ich werde vielleicht den Menschen Gutes tun, aber oft sehe ich zu einer solchen Handlungsweise nicht den geringsten Anlaß. Auch sind die Menschen keineswegs so nett, daß man sich ihretwegen Sorgen machen sollte. Warum treten sie nicht geradeheraus und offen an einen heran, und warum muß ich unbedingt als erster mich an sie heranmachen? Das ist eine Frage, die ich mir oft vorgelegt habe. Ich bin ein dankbares Wesen und habe das schon durch Hunderte von Dummheiten bewiesen. Ich würde Offenheit augenblicklich mit Offenheit erwidern und den Betreffenden sofort liebgewinnen. Und das habe ich auch schon oft getan; aber alle haben mich sogleich hinters Licht geführt und sich mit Hohn und Spott vor mir versteckt. Der offenherzigste von allen war noch Lambert, der mich in meiner Kindheit viel prügelte; aber auch der war nur ein offenherziger Schuft und Übeltäter, und seine Offenherzigkeit war nur eine Folge seiner Dummheit. Das waren meine Gedanken, als ich nach Petersburg kam.
    Als ich damals aus Dergatschews Wohnung heraustrat (weiß der Himmel, was mich zu ihm hingezogen hatte), schloß ich mich an Wassin an und sprach ihm in einem Anfall von Begeisterung meine Bewunderung aus. Und was geschah? Noch am selben Abend fühlte ich, daß meine Zuneigung zu ihm sehr viel geringer geworden war. Warum? Ebendarum, weil ich ihm meine Bewunderung ausgesprochen und mich dadurch vor ihm erniedrigt hatte. Es könnte scheinen, daß gerade das Gegenteil zu erwarten sei: ein Mensch, der so gerecht und offenherzig ist, daß er einemanderen sogar zu seinem eigenen Schaden die gebührende Anerkennung zollt, ein solcher Mensch steht doch, was seinen eigenen Wert anlangt, höher als jeder andere. Aber – ich sah das ein und mochte Wassin doch weniger gern, sogar sehr viel weniger; ich wähle absichtlich ein Beispiel, das dem Leser bereits bekannt ist. Sogar an Krafft dachte ich mit einem unangenehmen, bitteren Gefühl zurück, weil er mich selbst ins Vorzimmer hinausgeführt hatte, und diese Empfindung dauerte bis zum nächsten Tag, als völlig klar wurde, wie es mit Krafft gestanden hatte, und ich ihm nicht mehr zürnen konnte. Etwas Ähnliches hatte ich im Gymnasium, und zwar schon in den untersten Klassen, durchgemacht: wenn einer meiner Mitschüler mich übertraf, sei es in den Wissenschaften oder in witzigen Antworten oder an Körperkraft, dann hörte ich sofort auf, mit ihm zu verkehren und zu reden. Nicht daß ich ihn gehaßt oder ihm etwas Schlechtes gewünscht hätte; ich wandte mich einfach von ihm ab, weil das nun einmal in meinem Charakter lag.
    Ja, ich habe mein ganzes Leben lang nach Macht gedürstet, nach Macht und Einsamkeit. Ich träumte davon schon in so jungen Jahren, daß mir bestimmt jeder ins Gesicht gelacht hätte, wenn er erfahren hätte, was unter

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