Der Junge aus dem Meer - Roman
Teil meines Lebens tot und begraben sei.«
Der Wind peitschte gegen die Fenster und ließ die Spitzenvorhänge hin- und hertanzen. Die Vergangenheit schien wie ein Geist um uns herumzuwirbeln.
Achtzehn. Mom war achtzehn gewesen und verlobt. So alt wäre ich in zwei Jahren. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich in einem Brautkleid aussähe, mit einem glitzernden Diamantring am Finger. Und wen würde ich wohl heiraten? Greg? T. J.? Leo? Es war ein Gefühl, als ob ich gleichzeitig lachen und weinen würde.
»Warum nicht?«, fragte ich schließlich meine Mutter. »Warum hast du ihn nicht geheiratet?« Ich war erschüttertbei dem Gedanken, dass, wenn Mom es getan hätte, ich – also die spezifische Kombination der Gene meiner Eltern – niemals existiert hätte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
Mom trat zu mir und legte mir ihre Hände auf die Schultern, doch ich riss mich los. »Du wirst dich noch erkälten«, sagte sie. »Du solltest eine heiße Dusche nehmen. Wir reden ein andermal weiter. Anweisung der Ärztin«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.
»Ich will nicht darüber reden«, blaffte ich. Es war die letzte Lüge des Abends. Und mit diesen Worten schob ich mich an Mom vorbei, lief die Treppen hoch und hinterließ beim Aufstieg kleine Pfützen.
»Miranda!«, bellte Mom. Ihre Stimme war so streng, dass ich mich umdrehte. »Mir ist klar, dass diese Neuigkeiten nicht leicht zu verdauen sind. Ich erwarte trotzdem, dass du dich benimmst. Und keine Ausflüge mehr nach Fisherman’s Village. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Keine Sorge«, sagte ich und hörte dabei die Bitterkeit in meiner Stimme. »Ich werde mit Sicherheit Fisherman’s Village nicht mehr betreten.« Ich kämpfte gegen einen Anflug von Traurigkeit. »Aber du kannst mich hier nicht wie eine Gefangene halten«, fügte ich trotzig hinzu.
Mom ließ ein kurzes Lachen hören. »Du«, betonte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, »bist genauso dickköpfig wie deine Großmutter.«
Das Monster,
dachte ich. Dann drehte ich mich wieder um und stapfte die Treppe hoch.
Ich rannte ins Gästezimmer und knallte so laut es ging die Tür zu – das erste Mal in den bisherigen sechzehn Jahren meines Lebens.
***
Während der nächsten zwei Tage übernahm das Wetter den Job, dessen Durchführung ich Mom abgesprochen hatte: Kalter Regen lief an den Fenstern des Alten Seemanns hinab und hielt mich gefangen.
Jedes Mal, wenn ich in den strömenden Regen hinausblickte, musste ich an die delphinförmigen Regenrinnen an Leos Haus denken und spürte einen Stich in meiner Brust. Bis jetzt hatte mein Vergiss-ihn-Plan nicht besonders gut funktioniert. Nachts hatte ich immer wieder lebhafte, nach Salz duftende Träume über unsere Grotte, nur dass die Grotte unter Wasser lag, Leo und ich dort lebten und uns unter Wolken von Seetang küssten. Jedes Aufwachen schien wie eine Atempause vom nagenden Gefühl der Sehnsucht.
Obwohl Mom und ich im Haus gemeinsam von der Außenwelt abgeschnitten waren, gingen wir uns doch aus dem Weg. Während sie sich unten aufhielt, die Organisation der Küche übernahm und Anrufe tätigte, trug ich die Verantwortung für das obere Stockwerk und kramte im ehemaligen Zimmer von Onkel Jim herum, das jetzt mit alten Fahrrädern, Schaukelstühlen und noch mehr Porträts von Isadora vollgestopft war – wobei allerdings keines so extravagant war wie das im Arbeitszimmer.
Irgendwann zwischendurch rief mich Wade aus L. A. an. »Wollte nur mal meine brüderliche Pflicht tun und Hallo sagen«, kicherte er, bevor er dann auch Dad ans Telefon holte. Beide klangen so locker-leicht nach Kalifornien, so weit entfernt von der verwunschenen Stille des Alten Seemanns, dass mich die Unterhaltung nur noch missmutiger stimmte. Ich hatte nicht die geringste Lust, ihnen von Leo, T. J. oder Moms neuem Quasi-Freund zu erzählen.
Am zweiten Tag machte ich es mir in Isadoras begehbarem Kleiderschrank gemütlich; als Mom und ich nochauf Kommunikation eingestellt waren, hatte sie erwähnt, dass wir Isadoras Sachen zusammenpacken und als Kommissionsware an einen Secondhandshop in Savannah schicken müssten. Ich war dankbar, dass mich diese Aufgabe zumindest zeitweise von Leo und allem anderen ablenkte. Wenn ich ein Modefan wie CeeCee gewesen wäre, hätte ich mich jetzt im Himmel befunden. Von den Kleiderbügeln hingen erstklassig gefertigte Strandkleider in verschiedenen leuchtenden Farbtönen, daneben Fächer voller Schuhe mit
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