Der Junge aus dem Meer
Aber vielleicht besucht ihr mich trotzdem mal?“
„Oder wir begegnen uns beim Kurkonzert an der Strandpromenade“, grinste Karlchen Kubatz. Dabei verstaute er den Zettel mit der Telefonnummer in seiner Jacke.
„Um Himmels willen“, lachte Herr Utzerath . „Da kriegen mich keine zehn Pferde hin.“
Im gleichen Augenblick läutete die Schulglocke, und schon knapp drei Minuten später war die ganze schöne Ferienstimmung wie weggeblasen. Jedenfalls in der 9 C.
Studienrat Dr. Purzer hatte das Klassenzimmer kaum betreten und die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, da blickte er schon auf seine Armbanduhr und sagte: „Gefahr liegt in der Luft, meine Freunde.“ Dabei spazierte er zum Fenster hinüber. „Aber glücklicherweise sind wir gewarnt. Schon vorgestern und gestern mußten die letzten Stunden wegen allzu großer Hitze ausfallen. Auch heute klettert die Sonne immer höher, und ich erblicke keine Wolke am Himmel.“ Er schüttelte betrübt den Kopf und legte dann seine Bücher auf das Katheder. „Aber da unser sehr verehrter Herr Schuldirektor Senftleben immer erst kurz vor elf Uhr das Thermometer zu befragen pflegt, bleibt uns mit Sicherheit noch eine volle Stunde zur gemeinsamen fröhlichen Arbeit.“ Er kreuzte jetzt die Arme vor der Brust. „Und damit die Herrschaften so kurz vor den großen Sommerferien nicht allzu übermütig werden, schreiben wir jetzt noch schnell eine Klassenarbeit.“
In der 9 C brodelte es wie in den drei Bad Rittershuder Mineralquellen, und Emil Langhans zischte: „So eine Affengemeinheit.“
„Darf ich bitten, die Hefte aufzuschlagen“, meinte Doktor Purzer ungerührt. „Es geht um ein englisches Diktat…“
„Den muß ein Pferd getreten haben“, knurrte Paul Nachtigall. „Ich wette meine Badehose, wenn den kein Pferd getreten hat.“
Aber da fragte Dr. Purzer auch schon so höflich, daß es einem die Schuhe ausziehen konnte: „I suppose you have been prepared , Gentlemen?“ Und gleich anschließend fing er auch schon an zu diktieren. Dabei tanzten ein paar Lichtflecke zuerst über seine Brillengläser, dann über sein Kinn und schließlich über seine blau-rot gestreifte Krawatte. Das kam von der Sonne, die durch die Kastanienbäume ins Zimmer schien.
Bereits zwei Tage später war derselbe Studienrat Dr. Purzer wie ausgewechselt. Er stand zusammen mit dem gesamten Lehrerkollegium zwischen dem Schuldirektor und Studienrat Utzerath auf der breiten Treppe vor dem Hauptportal und sang aus vollem Hals „Hoch auf dem gelben Wagen“.
Dabei blickte er vergnügt zu den Schülern hinunter, die sich klassenweise im Schulhof versammelt hatten und mitsangen. Die älteren etwas weniger laut als die jüngeren.
Anschließend hielt Oberstudiendirektor Senftleben noch eine kleine Rede. Das Leben sei leider kein Honiglecken, stellte er fest, und deshalb sei es eben so wichtig, sich in der Schule auf dieses Leben gehörig vorzubereiten. Andererseits habe ja ein bedeutender Dichter geschrieben, daß harte Arbeit nur möglich sei, wenn gelegentlich auch frohe Feste folgten. In diesem Sinne wünschte er schließlich allen Schülern möglichst schöne Sommerferien. „Kommt alle gesund und erholt zurück, damit wir dann wieder um so mehr Freude an unserer Schule haben“, rief Oberstudiendirektor Senftleben zum Schluß.
Daraufhin sang das gesamte Prinz-Ludwig-Gymnasium noch „Horch, was kommt von draußen rein“.
Gleich hinterher war der Schulhof so leergefegt wie ein Stadion nach einem Fußballspiel. Nur die Herren vom Lehrerkollegium schüttelten sich noch zwei oder drei Minuten lang die Hände.
Die Glorreichen Sieben, beziehungsweise sechs von ihnen, radelten währenddessen bereits in Richtung Karlsplatz.
„Wir müssen ihn einfach um den Finger wickeln“, bemerkte Karlchen Kubatz und meinte damit den Friseurmeister Treutlein. Sie überholten dabei gerade die Straßenbahn mit der Nummer 7 beim Hauptpostamt. Als sie gleich darauf in die Herderstraße einbogen, war Fritz Treutlein nur noch ein paar hundert Meter von ihnen entfernt und bedeckte gerade zum zweitenmal das Gesicht von Herrn Kalender mit Seifenschaum.
Der Polizeimeister hatte bereits seinen ersten Kontrollgang hinter sich gebracht, zwei Autowaschanlagen inspiziert und über mindestens zwei Dutzend Gartenmauern gespäht.
„Kein einziger Rasensprenger war in Betrieb“, bemerkte er zufrieden. „Unsere Bürger sind diszipliniert, wenn es sein muß.“
„Das hört man gern“, erwiderte Friseurmeister
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