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Der Junge aus dem Meer

Der Junge aus dem Meer

Titel: Der Junge aus dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Weidenmann
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aufgetaucht war.
    Eine Weile hatte Herr Landauer gewartet; erst als von den Schritten des Stewards nichts mehr zu hören war, beugte er sich vor und war wieder so dicht vor dem Jungen mit den schwarzen Haaren wie mittags in der Kuhle. Nur, daß sie sich jetzt nicht im Sand, sondern auf Stühlen gegenübersaßen. Die Schiffssirene tutete inzwischen zum zweitenmal .
    „Wenn du jetzt aufwachen wirst, hast du alles vergessen“, flüsterte der untersetzte Mann in dem schwarzen Anzug, und seine verschleierten Eulenaugen senkten sich wieder einmal in den Blick des Jungen. „Du kannst dich an nichts mehr erinnern, wenn du jetzt aufwachst — an nichts mehr...“ Und er wiederholte es immer wieder: „Du hast diese dunkelbraune Ledertasche vergessen, du hast überhaupt alles vergessen, was passiert ist, seitdem wir zum erstenmal auf diesem Schiff waren. Du erinnerst dich an nichts mehr, wenn du aufwachst.“ Er packte den Jungen bei den Schultern. „Und du wirst jetzt aufwachen, du fühlst dich wieder ganz entspannt, ich zähle bis fünf, und dann wird alles vorbei sein wie ein langer, tiefer Traum. Eins — zwei — drei...“
    Als kurz darauf die Schiffssirene zum letztenmal aufheulte, gab Herr Albert Landauer dem schwarzhaarigen Jungen gerade die dunkle Sonnenbrille zurück. Er sprach jetzt mit ihm wie mit einem völlig normalen Menschen. „Vielleicht ist es besser, du läßt sie vorerst noch auf deiner Nase“, meinte er lächelnd. Er war schon zwei Schritte gegangen, da blieb er noch einmal stehen und drehte sich um: „Hotel Lakolk in Kongsmark , du weißt es noch, Peter, beste Grüße an deine Eltern. So, und jetzt muß ich mich sputen, daß die Absätze rauchen.“ Er ließ den Jungen stehen und flitzte mit der dunkelbraunen Ledertasche zur Treppe. Man war schon dabei, die Gangway einzuziehen, als er aufs Deck kam: „Einen Moment noch“, rief er und lief über die schmale Stahlbrücke an Land. Gleich darauf wurde sie endgültig hochgehievt.
    Die Musik aus den Lautsprechern klang jetzt lauter, die Motoren liefen an, und ein leichtes Vibrieren ging durch das ganze Schiff.
    Und genau in diesem Augenblick erlebte der schwarzhaarige Junge in dem rot-blau karierten Hemd etwas ganz Sonderbares. Er saß immer noch in dem Raum mit den leeren Tischen und der Tanzfläche, genauso regungslos, wie ihn der Mann mit den grüngrauen Eulenaugen kurz zuvor verlassen hatte. Aber als jetzt die Motoren stampften und der ganze Raum zu zittern anfing, da hatte Alexander plötzlich das Gefühl, als wäre mitten in seinem Kopf eine knallhelle Glühbirne angeknipst worden. Mit einem Schlag hörte er jedes Geräusch wieder ganz klar und erkannte um sich herum wieder jeden Gegenstand haargenau. Die Glasglocke, die ihn bisher zugedeckt hatte, war auf einmal verschwunden.
    Für einen kurzen Moment blitzte es in seinen Augen, und dann rannte er los.
    Herr Albert Landauer war inzwischen zusammen mit der dunklen Ledertasche wieder in seinen grauen Mietwagen geklettert. Er beobachtete noch, wie das weiße Schiff mit den vielen Lichtern von der Landungsbrücke langsam ablegte, und dann fuhr er los.
    Allerdings ein paar Minuten zu früh.
    Aber das sollte dem Mann mit den grüngrauen Eulenaugen erst ein paar Stunden später klarwerden.
    Als sich die Fähre nach Dänemark nämlich um ihre eigene Achse gedreht hatte und allmählich den Hafen verließ, gab sie den Blick auf die zwei Fischkutter frei, die gerade noch auf der Seeseite ihre letzten Aale und Seezungen in das Schiff geladen hatten. Jetzt tuckerten sie zum Land zurück, und in einem von ihnen saß ein schwarzhaariger Junge mit gelben Cordhosen und einem rot-blau karierten Hemd.
    Genauso wie Herr Albert Landauer noch im allerletzten Augenblick über die Gangway an Land gelaufen war, hatte der Junge, der vorläufig noch Alexander hieß, die Laderampe im Unterdeck gefunden und war in den zweiten Fischkutter gesprungen, bevor der sich von der Fähre gelöst hatte.
    Inzwischen hatte der graue Volkswagen die letzten Häuser von List erreicht und bog wieder zur Landstraße ein. „Also doch noch ein Gewitter“, murmelte der Mann mit den verschleierten Eulenaugen vor sich hin, weil jetzt ein paar Regentropfen gegen die Windschutzscheibe klatschten. „Soll mich nicht weiter stören.“
    Im selben Augenblick klingelte im Haus Seestern das Telefon. Und dieses Klingeln wirkte wie ein elektrischer Kurzschluß . Seit mindestens zwei Stunden saßen nämlich alle Bewohner ratlos und besorgt im

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