Der Junge aus dem Meer
Freund.“
Als sie durch die Innenstadt von Westerland fuhren, war ein dumpfes Gepolter zu hören, als ob ein Autobus vorbeifahren würde. Aber als Herr Landauer durch die Windschutzscheibe zu den Dächern der Häuser blickte, merkte er, daß ein Gewitter heraufzog.
„Paßt mir nicht ganz in den Kram“, murmelte Herr Landauer. „Aber es lag ja schon seit heute mittag etwas in der Luft.“
Kurz hinter Kämpen braute sich das Gewitter immer mehr zusammen. Der Horizont verdunkelte sich, und die schrägen Strahlen der Sonne wirkten noch greller.
Bei der Einfahrt nach List war der Himmel nur noch grau und schwarz. Die Straßenbeleuchtung wurde eingeschaltet, und auch die Autofahrer mußten ihre Scheinwerfer anknipsen.
Der Mann mit den Eulenaugen steuerte seinen Wagen direkt zum Hafen und zur Landungsbrücke. Als er den Motor abstellte und die Handbremse zog, meinte er: „Jetzt geht’s um die Wurst.“
Dabei blickten beide zu dem eleganten, schneeweißen Schiff hinüber, das neben Fischkuttern und Segelbooten am Kai lag. Es war hell erleuchtet, und über den Decks hingen Ketten von bunten Glühbirnen. An der Gangway drängelten sich die Fahrgäste. Das war an den Wochenenden immer so. Da verwandelte sich die Fähre nach der dänischen Nachbarinsel Römö nämlich allabendlich zum Musikdampfer, auf dem man tanzen und zollfrei einkaufen konnte. Drüben ging es dann in die Restaurants oder ins Spielkasino und anschließend zurück. Die Seereise durch das Wattenmeer nach Dänemark dauerte nicht länger als eine knappe Stunde.
„Na, kannst du dich an das Schiff erinnern?“ fragte der untersetzte Mann mit den Eulenaugen und fügte gleich eindringlich hinzu: „Du mußt dich erinnern, mein Junge.“
„Ja“, flüsterte Alexander, „auf diesem Schiff war ich schon.“
„Ausgezeichnet“, lobte Herr Albert Landauer. „Und du weißt auch genau, was du jetzt zu tun hast?“
„Die Tasche zurückholen“, erwiderte der Junge in dem rot-blau karierten Hemd.
„Dann besorge ich jetzt die Fahrkarten“, meinte der Mann mit dem Hut und dem schwarzen Anzug. Er blickte auf seine Armbanduhr. „Bis das Schiff ablegt, haben wir noch zwanzig Minuten. Das müßte genügen.“ Er stieg aus und schloß die Tür hinter sich ab.
Das Gewitter mußte sich die Sache inzwischen anders überlegt haben. Vorerst zog es jedenfalls an der Insel vorbei.
Deshalb blieben auch die Passagiere des Schiffs zunächst auf den Decks und blickten zum Hafen und zu den anderen Fahrgästen hinunter, die vergnügt und unternehmungslustig immer noch in Gruppen über die Gangway an Bord kamen. Aus den Lautsprechern war Musik zu hören.
Zur Seeseite hin blieb das Schiff vorerst noch so gut wie leer. Dort stand jetzt im Schatten eines aufgehängten Rettungsbootes Herr Albert Landauer neben Alexander an der Reling. Sie konnten von dieser Stelle aus zwei Fischkutter sehen, die an der Bordwand festgemacht hatten und durch eine breite Eisentür frische Aale, Krabben und Seezungen im Bauch des Musikdampfers verschwinden ließen.
„Hast du alles begriffen?“ fragte der Mann mit den Eulenaugen nach einer Weile. „Du darfst jetzt keinen Fehler machen.“ Er hatte dem schwarzhaarigen Jungen die Sonnenbrille wieder abgenommen und suchte seinen Blick. „Du findest diese Garderobe wieder?“
„Ich weiß genau Bescheid“, erwiderte Alexander.
„Fein!“ meinte Herr Landauer. Er fingerte einen kleinen Schlüssel aus der Weste seines schwarzen Anzugs. „Da ist er“, sagte er jetzt. „Du darfst ihn nicht verlieren, und deshalb habe ich bis zum letzten Augenblick gewartet. Steck ihn in deine Hosentasche, und dann wollen wir unser Glück probieren. Du gehst voraus, wie abgemacht.“
Der schwarzhaarige Junge traumwandelte jetzt durch eine Tür, über eine schmale Treppe und an einem Saal mit vielen leeren Tischen vorbei durch einen Korridor. Dort saß ein älterer Mann mit einer Glatze zwischen lauter leeren Garderobenhaken hinter einer Art Theke und war dabei, ein Kreuzworträtsel zu lösen.
Herr Albert Landauer hatte sich hinter einer viereckigen Säule versteckt und beobachtete an ein paar Blattpflanzen vorbei, wie der Junge mit den gelben Cordhosen und einer Mütze über dem schwarzen Haar an die Garderobe trat und wie der alte Mann auf stand. Er trug eine weiße Jacke wie ein Steward und schien sich anzuhören, was Alexander ihm zu sagen hatte. Aber nach einer Weile wurde deutlich, daß sich die beiden nicht einigen konnten. Jedenfalls schüttelte
Weitere Kostenlose Bücher