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Der Junge, der es regnen liess

Der Junge, der es regnen liess

Titel: Der Junge, der es regnen liess Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Conaghan
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zu entziffern. Ich hielt mich von ihnen fern.
    Ich versuchte, mich in ihrer Nähe unsichtbar zu machen und keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Funktionierte das? Nicht im Geringsten. Als Engländer an einer schottischen Schule hätte ich mir genauso gut ein Schild mit roter Neonschrift auf den Rücken hängen können: Englischer Typ. Traut euch ruhig, tretet ihm die Seele aus dem Leib.
    Zuerst war es Starren und stummes Fragen: ›Wer zum Teufel ist denn der?‹ ›Wann ist der Angeber auf unsere Schule gekommen?‹ Und sie hatten nicht unrecht, als sie das Wort unsere benutzten. Es war in der Tat auch ihre Schule. Sie hatten die Macht darüber. Sie lieferten die Grundlagen. Sie kontrollierten, wo andere Schüler sich aufhielten … und auch manche Lehrer. Sie bestimmten die Atmosphäre jeder einzelnen Schulstunde.
    Dann folgten gelegentliche Zurufe: »Na du Clown, was machst’n hier oben?« oder »Hau ab in dein eigenes Land, du Sack!«
    Ich revanchierte mich nicht ein einziges Mal und machte auch keine Geste, die man hätte missverstehen können. Für gewöhnlich steckte ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und schottete mich gegen ihre Kommentare ab. Solange es bei den Kommentaren blieb, wurde ich damit fertig, das war kein Problem. Schau auf den Boden! Schau auf den Boden! Schau auf den Boden! Das war mein Mantra, sobald sie in der Nähe waren. Am meisten ärgerte mich, dass diese minderwertigen Typen den empfindlichen, unsicheren Schülern Angst einjagten. Dass sie sie aussonderten und die Schwachen zu ihrer Beute wählten. Ich war entschlossen, auf sie keinen schwachen Eindruck zu machen.
    Ein paar gute Seelen in der Schule hatten mich vorgewarnt. Leute, die offenbar wussten, wozu die Typen fähig waren. Ich hörte zu. Ich begriff.
    »Siehst du diese NEDs?«, fragte Conor Duffy.
    »NEDs?«, fragte ich.
    »Die Irren-Gang, die mit den Trainingshosen und den schmierigen Käppis.«
    »Meinst du mit irre witzig? Oder meinst du wirklich irre?«
    »Hör zu, Clem, alter Junge, die Irren-Gang, das sind die einzigen in dieser Schule, vor denen du besser die Biege machst.«
    »Wirklich?«
    »Wenn ich’s dir sage.«
    »Die NEDs sind also dasselbe wie die Prolls, da wo ich herkomme?«
    »Sind diese Prolls bewaffnet?«
    »Wie bitte?«
    »Messer, Klingen, Schraubenzieher – sind die bewaffnet?«
    »Ich nehme an, einige von ihnen schon. In meiner alten Schule gab es eigentlich keine Probleme mit Prolls oder NEDs.«
    »Dann isses das Gleiche.«
    »Wie gesagt, bei uns gab es keine Probleme mit denen.«
    »Nu ja, aber hier gib’s die. Wir haben voll die Probleme mit NEDs«, sagte Conor. Ich hörte die Wut in seiner Stimme, doch auch ein wenig Faszination. Oder vielleicht lag es nur an der Art, wie ihm bei seinem Dialekt – ob er den nun vorspielte oder nicht – die Worte im Mund herumtanzten, ehe sie aus einem Mundwinkel entwischten.
    Auch Stolz war spürbar. Der Stolz, eine Schule zu besuchen, auf der die irrsten Typen der Stadt sich herumtrieben. Ich hatte den Eindruck, Conor würde noch auf Jahre hinaus die Abendunterhaltung mit seinen Geschichten bestreiten, wie er die Zeit an einer von NEDs verpesteten Schule überlebt hatte. Märchen würden daraus gesponnen werden und Storys von Verbrüderungen erfunden. Wer weiß, vielleicht konnte er sogar eine Art Gebrauchsanweisung zum Überleben für künftige Generationen zusammenstellen.
    »In Ordnung, ich halte mich von ihnen fern«, sagte ich.
    »Mach das, Mann.«
    »Um ehrlich zu sein, glaube ich gar nicht, dass ich irgendwas mit ihnen zu tun haben werde, Conor.«
    »Pass bloß auf, dass das so bleibt. Diese durchgeknallten Drecksäue hätten nix dagegen, so einen englischen Typen wie dich abzumurksen.« Dann legte er eine theatralische Pause ein. »Gar nix dagegen hätten die.« Mit einem unsichtbaren Messer vollführte er eine übertriebene Geste des Erstechens (er war in der Abschlussklasse für dramatisches Spiel).
    So lernte ich das Wort Abmurksen kennen. Ein neues Verb. Ich konnte mir allerdings keinen Kontext vorstellen, in dem ich es gebrauchen würde.
    »In Ordnung, ich werde daran denken.«
    »Ein falsches Wort reicht denen schon – oder wenn man einen von denen falsch anguckt.«
    »Danke.«
    »Im Ernst, Mann, pass bei diesen Psychos bloß auf.«
    Dann mischte sich Conors kleiner Freund ins Gespräch ein. Ein schwächlich wirkender Typ, der ein immens gutes Herz sein eigen nannte, aber ansonsten nicht viel, wenn man nach dem Zustand seiner zerlumpten

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