Der Junge, der Träume schenkte
forderte Rothstein.
Christmas erstarrte, bevor er ihm das Geld reichte.
Rothstein nahm es entgegen und hielt es ihm dann wieder hin. »Du hast ein Talent, Blödsinn zu verzapfen. Und du hast gewonnen. Hier hast du deine hundert Dollar.« Er lachte.
»Sagten Sie nicht, wenn Sie verlieren, verlieren Sie doppelt?«, fragte Christmas.
»Übertreib nicht, Junge. Das war ein gutes Trinkgeld. Gib dich zufrieden. Ich verliere nicht gern.«
Christmas grinste und verzog dann das Gesicht. Seine Lippe hatte aufs Neue zu bluten begonnen.
Wieder lachte Rothstein, als verschaffte ihm diese Wunde eine kleine Genugtuung. »Und was fängt man an mit der Gabe, sich Geschichten auszudenken?«
Mit halb offenem Mund starrte Christmas ihn an. Wie gelähmt von einem Bild, das plötzlich in ihm aufgeblitzt war. Ein Paket, das von Fred ausgepackt wurde und aus dem ein schwarzes Radio aus Bakelit zum Vorschein kam. Stimmen und Geräusche wurden wieder lebendig. »Man muss warten, bis sich die Röhren aufgeheizt haben.« Dann ein Rauschen. Und Musik. Und das Klopfen des schwarzen Spazierstocks, mit dem der alte Saul Isaacson auf den Boden pochte. »Weil du die richtige Wahl treffen wirst, wenn du im Leben weißt, wer du sein könntest.« Schließlich sie, Ruth, mit einem Verband um die Hand, auf dem ein Blutfleck prangte. Und ihr schwarzes Haar. Und ihre Stimme. »Ich mag die Sendungen, in denen gesprochen wird.«
»Junge, träumst du?«, fragte Rothstein da. »Wofür zum Henker sollen deine Geschichten gut sein?«
»Ich möchte sie im Radio erzählen«, sagte Christmas.
Arnold Rothstein runzelte die Stirn und neigte den Kopf zur Seite, als verstünde er nicht. »Wieso das?«
»Weil ein ganz bestimmtes Mädchen dann vielleicht meine Stimme hören würde«, erklärte Christmas. »Selbst wenn sie ganz weit weg ist.«
Rothstein massierte sich die Nasenwurzel, spreizte langsam Daumen und Zeigefinger und strich seine Augenbrauen glatt. Der Junge gefiel ihm wirklich. »Das Radio reicht bis in die Ferne«, bemerkte er nur.
»Ja, Sir.«
»Arnold«, sagte Rothstein. »Unter Spielern nennt man sich beim Vornamen, Christmas.«
»Danke ... Arnold.«
Rothstein erhob sich vom Stuhl und kehrte an den Billardtisch zurück. »Und gib Ruhe in Sachen Dasher und Happy Maione.«
Wortlos sah Christmas ihn an.
»Du kannst gehen«, erklärte Rothstein. »Sag diesem Arschloch von Sticky, er soll vorsichtig sein. Im Gegensatz zu dir ist er mir nicht sympathisch. Und du, halt dich von der Straße fern. Das ist kein Leben für dich.«
Christmas sah den meistgefürchteten Gangster New Yorks lange eindringlich an, bevor er sich zum Ausgang wandte.
»Warte«, sagte da Rothstein hinter ihm. »Ist das mit dem Radio auch so ein Blödsinn von dir?«
»Nein.«
Arnold Rothstein hatte den Mund schon geöffnet, um etwas zu sagen, als er den Kopf schüttelte und schnaufte. »Lass mich darüber nachdenken«, brummte er. Er hob die Hand und ließ sie gleich darauf ruckartig wieder sinken. Als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Mach, dass du wegkommst, Christmas.«
35
Manhattan, 1926
Die Nachricht hatte im Nu die Runde gemacht. »Sie haben Christmas Luminita abgeholt«, berichteten die Zeugen aus der Cherry Street. Und wenn es hieß, jemand sei abgeholt worden, rechneten nicht viele im Viertel mit seiner Rückkehr. Erst recht nicht, wenn er von Lepke Buchalter und Gurrah Shapiro, zwei großen Tieren, abgeholt worden war, denn wenn sich die beiden persönlich bemühten, bedeutete das, sie handelten im Auftrag des Mannes aus Uptown. Damit wurde eine Rückkehr dessen, der abgeholt worden war, noch unwahrscheinlicher. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Und innerhalb kürzester Zeit wurde Christmas für tot erklärt.
Eine alte Klatschbase der übelsten Sorte stand bereits mit einem Fuß auf der Treppe des Hauses Nummer 320 in der Monroe Street, um Mrs. Luminita aufzusuchen und sich als Erste im Schmerz der Mutter des Verstorbenen zu suhlen, als derselbe schwarze Cadillac Type V-63, der Christmas abgeholt hatte, ganz in ihrer Nähe anhielt. Und das Herz der Klatschbase schlug höher, als die Wagentür geöffnet wurde und der Abgeholte höchstpersönlich mit geschwollenem, blutverklebtem Gesicht heraustaumelte. Womöglich, so dachte sie, konnte sie miterleben, wie er unmittelbar vor ihren Augen starb. Und im Nu malte sie sich aus, wie anschaulich sie Mrs. Luminita die letzten Augenblicke im Leben ihres Sohnes schildern würde, wie sie ihre Erzählung
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