Der Junge, der Träume schenkte
mit all dem Gift würzen würde, das viele Jahre übles Gerede in ihrem Mund hinterlassen hatten. Und einen Moment lang fühlte sie sich wieder jung, so, als strömte frisches Blut durch ihre von Krampfadern durchzogenen, stämmigen Beine. Konnte es denn wahr sein, dass das Schicksal beinahe am Ende ihres Weges einen solch grandiosen Theatercoup für sie bereithielt? Und ihr schmaler, verkniffener Mund verzog sich zu einem Grinsen, das ihre Augen glänzen ließ.
Doch da streckte ein Mann mit einem Cockerspanielgesicht den Kopf aus dem Wagenfenster und rief in freundschaftlichem Ton und völlig unaufgeregt: »He, Rabbit, pass auf dich auf! Man sieht sich.«
»Das ist Lepke«, stellte einer der kleinen Ganoven, die sich auf der Straße herumtrieben, verdattert fest. Ringsum wurde bewunderndes Raunen laut.
Die Klatschbase erstarrte. Mit offenem Mund musste sie mit ansehen, wie ein zweiter Kerl mit einer Boxernase aus dem Auto stieg. Er klopfte Christmas Luminita, der keinesfalls den Eindruck machte, als würde er jeden Moment auf dem Bürgersteig zusammenbrechen, zum Abschied auf die Schulter und rief lachend: »Mach’s gut, mein Freund!«.
»Leck mich, Gurrah!«, antwortete Christmas grinsend.
Die Klatschbase spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen und all der jugendliche Elan, den sie eben noch empfunden hatte, augenblicklich verpuffte. In ihrem Mund machte sich ein bitterer Geschmack breit, Galle oder Hass auf den Jungen, der sie um ihren Theatercoup betrog. Mit einem Ächzen sackte sie auf der Treppe vor dem Haus Monroe Street Nummer 320 in sich zusammen. Und bevor sie starb, hatte sie nur zwei Empfindungen: brennenden Neid auf ein Waschweib ganz in Schwarz, das genau in dem Moment hinzustieß und ihrer Familie die schreckliche Nachricht von ihrem Tod würde überbringen können, und Empörung über den glücklichen Christmas, der pfeifend an ihr vorbeilief, ohne die geringste Notiz von ihr zu nehmen.
»Tritt nicht auf die Alte, Rabbit!«, brüllte Lepke, während der Cadillac mit Vollgas davonbrauste. Das schallende Gelächter der beiden Männer ging im Dröhnen des V8-Zylinder unter.
Christmas tat die Lippe weh. Und ihm war klar, dass er sich in seinem Zustand nicht zu Hause blicken lassen konnte. So durchquerte er den Hausflur und klopfte leise an eine Tür im Erdgeschoss, hinter der er einen alten Freund zu finden hoffte, der bereit war, ihm zu helfen.
»Ach, du Scheiße, Chef, wer hat dich denn so zugerichtet?«, entfuhr es Santo Filesi, als er die Tür der Wohnung öffnete, in der er mit seinen Eltern lebte.
»Wenn ich’s dir sage, machst du die Kerle dann fertig?«, fragte Christmas, um einen Scherz bemüht.
Santo lief rot an. »Ich ... nein, ich meinte doch ...«
»Gott segne dich, Santo«, sagte Christmas da und fiel ihm um den Hals.
Eine Woche später sahen die Wunden schon besser aus.
»Du wirst Narben zurückbehalten«, hatte Cetta gesagt. »Die auf der Stirn wird unter deiner Locke verschwinden, die an der Lippe jedoch wird immer zu sehen sein.«
Ein Arzt hatte sie ihm mit ein paar Stichen genäht. Die verkrustete Wunde verlief jedoch fast einen Daumenbreit hinunter bis zum Kinn.
Mit traurigem Blick, als hätte man ihr ein vollkommenes Spielzeug kaputt gemacht, hatte Cetta ihren Sohn gestreichelt. Und dann erzählte sie ihm von Mikey, dem Sohn ihrer Adoptivgroßeltern Tonia und Vito Fraina. Ein stets fröhlicher Junge sei er gewesen, so sagte sie, einer, der das Leben nicht ernst genommen habe, der grelle Anzüge getragen und immer einen Haufen Geld in der Tasche gehabt habe. Cettas Stimme klang weich, warm und liebevoll, aber auch betrübt. Sie erzählte Christmas, dass man Mikey einen Eispickel in Kehle, Herz und Leber gerammt hatte. Und anschließend hatte man ihm ins Ohr geschossen, sodass ihm das halbe Gehirn zur anderen Seite herausgespritzt war. Und weil er noch immer gezuckt hatte, war er mit einem Draht erdrosselt worden. Schließlich hatte man ihn in einen gestohlenen Wagen geladen, so Cetta weiter, und habe Sal, seinen einzigen Freund, gezwungen, sich ans Steuer zu setzen und Mikey und den Wagen auf einer Bauparzelle in Red Hook, Brooklyn, zurückzulassen.
»Ich habe Oma Tonia noch vor Augen«, sagte Cetta. »Sie fuhr immer mit dem Finger über das Foto ihres toten Jungen. Die Aufnahme war schon ganz verblichen, so oft hatte sie ihn gestreichelt ...« Da legte sie die Arme um Christmas und drückte ihn an sich, den Blick ins Leere gerichtet. Ihre Gedanken wanderten zu
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