Der Junge, der Träume schenkte
wandte Karl ihm irritiert den Blick zu. Cyril stand vom Bett auf, ein zufriedenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
Cetta hielt den Atem an. Ohne den Blick vom Radio abzuwenden, drückte Sal fest ihre Hand.
»Ich möchte, dass ihr an New Yorks Prostituierte denkt. Aber nicht an den Sex mit ihnen. Ich möchte, dass ihr sie seht, wie ich sie sehe: als Frauen«, tönte Christmas’ Stimme aus den Radiogeräten in Harlem, der Lower East Side und Brooklyn. »Ich habe ihnen viel zu verdanken. Und ganz New York steht in ihrer Schuld. Habt Achtung vor ihnen ... sie haben ein Herz auch für die unter euch, die keines haben.«
Sister Bessie drückte ihre Kinder an sich und blickte lächelnd zu Cyril.
»Jetzt ein ganz besonderes Lied«, fuhr Christmas mit melodiöser Stimme fort. »Und dann öffne ich euch die Tür zu der finsteren, gefahrenvollen Welt, in der wir Straßengangster leben ...«
Christmas gab Karl ein Zeichen, der daraufhin das Mikrofon an den Grammofonlautsprecher hielt und den Bremshebel löste.
»Das ist für dich, Mama«, sagte Christmas.
Behutsam setzte Karl die Grammofonnadel auf die Schallplatte.
In ihrem Wohnzimmer hörte Cetta das Knistern der Nadel und dann die Stimme ihres Sohnes: »Fred Astaire hat mir persönlich gesagt, er widme dieses Lied dir. Erkennst du es wieder?«
Aus dem Radio klangen die ersten Töne.
» Lady ... «, murmelte Cetta, bevor ein Schluchzer sie innehalten ließ. » Lady ... Be ... «, stammelte sie weinend, » Lady, Be Good! «. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf und klammerte sich an Sal, der weiter wie versteinert dasaß und das Radio anstarrte.
»Ich hab gehört, Fred Astaire ist schwul«, bemerkte Sal leise, als er ein Taschentuch hervorholte und es Cetta reichte.
Doch sie hörte ihn gar nicht; sie lachte und weinte zugleich.
»Danke, Mama«, sagte Christmas, als das Lied verklungen war. »Und jetzt ruft mit mir, alle zusammen: Hoch mit dem Lappen! Möge die Vorstellung beginnen, New York!«
52
Los Angeles, 1927
Bill hielt mit seinem Studebaker Big Six Touring, Baujahr 1919, vor der gestreiften Markise des Los Angeles Residence Clubs am Wilshire Boulevard, ohne den Motor auszuschalten. Er streichelte über das Lenkrad des Big Six. Als der Wagen noch neu gewesen war, hatte es sicher geglänzt. Doch nun, nach acht Jahren Benutzung, war es matt und an einigen Stellen abgegriffen. Dennoch war der Studebaker noch immer ein schicker Wagen, den einst nur die Reichen gefahren hatten. Nicht zu vergleichen mit seinem tristen Ford T-Modell. Bill hatte ihn vor einem Monat für achthundert Dollar bar auf die Hand gebraucht gekauft. Ja, auch wenn er schon ein wenig in die Jahre gekommen ist, der Studebaker ist ein Auto, auf das man stolz sein kann, dachte er zufrieden, während der Portier des Residence Clubs ihm die Tür öffnete.
»Guten Abend, Mr. Fennore«, sagte der Mann.
»Hallo, Lester«, begrüßte Bill ihn lächelnd. »Bring ihn in die Heia.« Lässig klopfte er auf die Motorhaube.
Der Portier stieg ins Auto. Bill blieb auf dem Gehweg stehen, während sein Cabrio mit der bordeauxroten Karosserie auf den Gästeparkplatz einbog. Sicher, niemand drehte sich auf der Straße mit offenem Mund nach diesem Wagen um. Und niemand, der ihn, Bill, hinter dem Steuer sah, hielt ihn für reich. Aber verglichen mit seinem Ford, war dieses Auto schon ein Hingucker. Und sollten die Geschäfte weiterhin florieren, würde Bill sich eines Tages einen Duesenberg leisten können. Das J-Modell. Einen Sportwagen, der es auf hundertneunzehn Meilen in der Stunde brachte. Er war in diesem Jahr auf der New Yorker Automesse vorgestellt worden. Bill hatte Fotos in einer Zeitschrift gesehen und sofort beschlossen, dass er früher oder später einen Duesenberg besitzen würde. Erneut trat ein Lächeln auf sein Gesicht, bevor er den Blick zum fünften Stock des Los Angeles Residence Clubs hob. Suite 504. Sie war nicht zu vergleichen mit den Suiten des Whilshire Grand Hotels nur ein Stück den Boulevard hinunter. In Wahrheit handelte es sich bei der Suite 504 um ein großes Zimmer, das ohne Zwischentür in zwei Bereiche aufgeteilt war: auf der einen Seite das Bett, auf der anderen zwei Armsessel, ein Sofa und ein Couchtisch. Die Tapete war in den oberen Zimmerecken dunkel verfärbt und löste sich an manchen Stellen von der Wand. Anders als im Grand Hotel trug der Portier des Residence Clubs keine schnurbesetzte Uniform. Auch gab es keinen Zimmerservice. Bettlaken und
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