Der Junge, der Träume schenkte
Keine Stunde war vergangen, als er zu Ruth zurückkam und sie fragte: »Kennst du San Diego?«
Zwei Tage später bezog Ruth in der Gegend von Logan Heights ein winziges Apartment, das ihr neuer Arbeitgeber Barry Mendez ihr besorgt hatte. Der strahlend weißen Zähne und des fröhlichen Lachens wegen hätte man Barry für dreißig halten können. Die beginnende Glatze und der rundliche Bauch, der ihm über den Hosenbund ragte, ließen ihn jedoch wie vierzig wirken. Vor Jahren hatte er als Fotograf für Clarence gearbeitet. Er hatte Erfolg in Los Angeles gehabt, war dann aber nach San Diego zurückgekehrt.
»Obwohl er in Amerika zur Welt gekommen ist, bleibt er tief in seiner Seele Mexikaner«, hatte Clarence Ruth erklärt. »Träge und genial.«
Barry Mendez besaß ein Fotostudio und arbeitete als Hochzeitsfotograf. Die meisten Aufträge kamen aus der mexikanischen Gemeinde. »Sie bezahlen nicht so gut, chica «, erklärte Barry, als er Ruth einige Fotografien zeigte, »aber die Farben sind fantastisch, du wirst sehen. Und schau dir nur ihre Gesichter an! Heiraten ist für sie eine ernste Angelegenheit und zugleich ein Spiel. Und sie sind so stolz!«
Ruth entwickelte Barrys Aufnahmen. Und wenn er auf Hochzeiten fotografierte, blieb sie im Geschäft. Fand die Hochzeit an einem Sonntag statt, begleitete sie Barry als seine Assistentin. Kam hingegen ein Auftrag von einem Gringo herein, schickte Barry sie allein dorthin.
Mit ihrer freien Zeit wusste Ruth zunächst nichts anzufangen. Sie saß in ihrer klaustrophobisch engen Wohnung und dachte nach. Über sich selbst und über Christmas. Und allzu oft spürte sie nachts im Traum Christmas’ Hände auf ihrer Haut. Sie war davongelaufen, weil sie nicht bereit war, sagte sie sich selbst. Damit Stille einkehrte. Doch durch die Stille ihrer Einsamkeit hallten von allen Seiten Erinnerungen, alte und neue Gefühle. Schon bald hielt Ruth es zu Hause nicht mehr aus. Mit ihrer Leica über der Schulter begann sie, durch San Diego zu streifen. Schließlich entdeckte sie das Meer und fotografierte die Natur. Doch die Stimmen, Gedanken, Erinnerungen und Gefühle wollten nicht verstummen. Manchmal hatte sie den Eindruck, es gelänge ihr, sie in Schach zu halten, sodass sie nur schwach im Hintergrund rauschten wie die Meeresbrandung. Doch nur für einen kurzen Moment. Schon bald tauchten die Fragen wieder auf. Die Erinnerungen trugen sie fort, weit weg von der Gegenwart. Einzig um die Gedanken an Christmas zu verscheuchen, dachte sie hin und wieder an Daniel. Sie suchte in der Luft nach dem tröstlichen Lavendelduft der Slaters. Aber es half nichts.
Eines Tages erklärte Barry ihr, sie müssten jenseits der Grenze eine Hochzeit in Tijuana fotografieren. Froh über die Ablenkung, stieg Ruth mit ihrer Fotoausrüstung ins Auto. Als sie sich der Grenze näherten, raste ein Lieferwagen in die entgegengesetzte Richtung an ihnen vorbei. Eine Polizeistreife verfolgte ihn mit heulender Sirene. Ruth drehte sich um und sah, wie ein Polizist sich aus dem Fenster lehnte und das Feuer eröffnete. Der Lieferwagen geriet ins Schleudern, kam von der Straße ab und kippte auf die Seite. Barry bremste. Ruth stieg aus und begann zu fotografieren. Aus dem Fahrerhaus taumelte eine Frau, die an der Stirn blutete. Ruth fotografierte sie, ebenso die verängstigten Gesichter der beiden Kinder, die ihr folgten. Schließlich zwei Männer in schmutzigen hellen Hosen, die ihnen nur bis zu den Knöcheln reichten. Dann fotografierte sie, wie die Polizisten die Frau in den Staub stießen. Und eines der Kinder, wie es mit den Fäusten auf einen Polizisten losging, um die Mutter zu beschützen. Und den Polizisten, der ihm einen Fußtritt verpasste. Und einen der beiden Männer, der eingreifen wollte, woraufhin ihm jedoch ein anderer Polizist die Pistole an den Kopf drückte und ihn zwang, sich hinzuknien. Danach hielt Ruth im Bild fest, wie plötzlich eine weitere Streife auftauchte, anhielt und alle in den Wagen verfrachtet wurden. Der Wagen wendete und raste zurück in Richtung Grenze. Und als der Polizeiwagen an Ruth vorbeifuhr, fotografierte sie die fünf Mexikaner und die vor Furcht weit aufgerissenen schwarzen Augen eines der beiden Kinder, das sie durch die Heckscheibe des Autos ansah.
»Finito el sueño« , sagte Barry. Er spuckte in den Staub, der die asphaltierte Straße bedeckte, und stieg wieder ins Auto.
»Was bedeutet das?«, fragte Ruth, während sie sich neben ihn setzte und er Gas gab.
»Aus der
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