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Der kalte Himmel - Roman

Der kalte Himmel - Roman

Titel: Der kalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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ließ Marie den Hörer sinken. Langsam lief sie auf ihren Sohn zu, der in der Eingangshalle der Klinik neben ihrer Tasche auf sie gewartet hatte, und streifte ihm seine Winterjacke über.
    Fast die ganze Nacht saß Marie aufrecht in einem Plüschsessel ihres Pensionszimmers. Betrachtete ihren schlafenden Jungen, tastete sich mit Blicken an der grünen Tapete entlang, als ob sich da irgendwo die Lösung für ihre Probleme verbergen könnte. Doch da war nichts. Nichts als der leicht modrige Geruch einer langen Geschichte. Dieser Raum hatte bestimmt schon ganz andere Probleme gesehen, dachte Marie plötzlich. Vielleicht hatte man hier Menschen verfolgt, vielleicht hielten sich hier Leute versteckt in den Hitlerjahren, wer wusste das schon? Und dann die Bombennächte, der Einmarsch der Russen. Die Stadt Berlin und ihre Bewohner hatten weiß Gott Furchtbares mitgemacht.
    Marie wusste nicht viel darüber. In ihrer Volksschulzeit wurde nicht darüber gesprochen, erst in den letzten Jahren waren Einzelheiten durchgesickert, wurden Zeitungsberichte veröffentlicht, hatte sie erstmals auch von Judenverfolgungen in der Hollertau gelesen. Irgendwann war ihr in einer alten Zeitung auf dem Markt ein Bericht über das Konzentrationslager Dachau in die Hände gefallen. Das, was sie da sehen und lesen musste, hatte Marie so entsetzt, dass sie eine Zeitlang nichts und niemanden mehr wahrgenommen hatte. Erst als die Schlange ihrer Kundinnen am Marktstand länger und länger geworden war und Frau Fissler schließlich ihren Namen rief, war sie wieder zu sich gekommen. Da stand sie nun auf dem Marktplatz und sollte in einen Bericht über Dachau ihr Gemüse einwickeln. Hastig nahm Marie das Zeitungsblatt beiseite und schob es in ihren eigenen Einkaufkorb, der am Boden stand. » Frischen Rosenkohl, Frau Fissler? «
    Warum müssen die Menschen immer die hassen, die anders sind? Die sie nicht verstehen, weil sie eine andere Herkunft haben, eine andere Sprache sprechen, ein anderes Verhalten oder andere Angewohnheiten zeigen. In diesem Bericht über Dachau hatte Marie auch zum ersten Mal von dem Begriff » Euthanasie « gelesen, ein Ausdruck, den sie nicht gekannt hatte und den sie in der Volksausgabe ihres Brockhaus nachschlagen musste. Noch in der Erinnerung daran fröstelte Marie. Einen wie den Felix hätten sie damals auch umgebracht, dachte sie.
    Wie Blei legte sich der Gedanke auf sie und ließ ihre Glieder schwer werden. Wie gerne wäre sie eingeschlafen, doch ihre Gedanken rasten einfach weiter, nichts in ihr fand einen Halt, fand eine Ruhe. Vor Müdigkeit und innerer Kälte begann sie nun am ganzen Körper zu zittern. Ihre Zähne klapperten. Weiß Gott, es war schwer genug gewesen, Paul diese Reise abzutrotzen. Jeder Tag, den sie in Berlin verbrachte, forderte von denen, die auf dem Hof zurückgeblieben waren, einen erhöhten Einsatz. Mehr Unterstützung konnte sie nicht erwarten. Für alles, was hier in Berlin nun an Kosten für Felix entstand, musste sie selbst aufkommen. Ihr Lebtag lang hatte sie gearbeitet, schon als Kind in ihrer eigenen Familie mithelfen müssen. Sie würde auch das hier schaffen und sich eine Arbeit suchen, irgendeine. Sie war sich nie für etwas zu schade gewesen.
    *

» Eine Hopfenbäuerin! In Berlin? Det find ick gut « , kiekste der Beamte auf dem Arbeitsamt, als Marie gleich am nächsten Morgen bei ihm vorstellig wurde, nachdem sie Niklas in der Behandlung von Dr. Cromer zurückgelassen hatte.
    Der Mann trug einen beigen Anzug, ein etwas abgetragenes Hemd und eine Metallbrille. Er hatte schütteres Haar und kleine flinke Augen, die wie bei einem Wiesel ständig hin- und hersprangen. Marie hielt seinen Blicken stand. Sie war jung, sie war gesund, sie musste Geld verdienen.
    » Ne Hopfenbäuerin hatten wir auch noch nicht, oder? « , grinste der Beamte zu seinem Kollegen hinüber, der sich ebenso prustend hinter seinen Unterlagen versteckte.
    Doch so leicht ließ sich Marie nicht verunsichern. » Im Ausschank, da hab ich hin und wieder auch geholfen « , sagte sie stur, » bei uns daheim, im Festzelt, in der Hollertau. «
    » Holladiewat? « , fragte der Beamte und kiekste erneut. » Meine Gnädigste « , sagte er schließlich, » Vollbeschäftigung! Na, haben Sie davon schon mal gehört? Det is nämlich det, wat wir gerade haben. Det is, wenn jeder eine Arbeit haben tut « , erläuterte er nachsichtig, als er sah, dass Marie ihm nicht ganz folgen konnte.
    » Ja, und was heißt das jetzt? « , fragte sie

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