Der kalte Himmel - Roman
Tee auf. Felix saß auf dem Boden des Spielzimmers und kritzelte an seinen Zahlenreihen, doch Marie mochte gar nicht mehr hinsehen. Er schrieb wie um sein Leben, kritzelte und notierte unentwegt endlose Zahlensysteme, denen Marie schon lange nicht mehr folgen konnte, schrieb auf den Rückseiten der abgelegten Plakate, lag zwischen den Beinen von rauchenden Studenten und diskutierenden Frauen in wallenden indischen Gewändern, rechnete zur Musik von Jimi Hendrix und Janis Joplin und schien völlig zufrieden zu sein.
Zahlen, nichts als Zahlen, hatte Paul immer geseufzt. Vielleicht hatte er doch recht gehabt, dachte Marie. Was sollte das alles? Was sollte dieser verdammte einsame Kampf, den sie hier gegen ihre eigene Familie führte, wenn am Ende doch nichts zu ändern war? Wenn sich nichts für Felix zum Besseren wenden ließe? Er ein Außenseiter blieb, der nie mitten im Leben stehen würde?
*
» Paul? Ich weiß einfach nicht mehr weiter. «
Ihre Stimme kroch fast in das graue Telefon, die lange Schnur aus der Küche hatte sich locker um ihre Beine gewickelt. Mit angezogenen Knien saß Marie zusammengekauert auf ihrem Bett wie ein Häuflein Elend.
» Vielleicht war das Ganze wirklich ein Riesenfehler von mir « , gestand sie leise.
» Ja, Marie, was soll ich denn dazu sagen? «
Auch Paul hatte das Telefon aus der Küche gezogen, hinaus auf die Fensterbank. Er stand auf dem Hof, in seiner grauen Arbeitshose und dem zerschlissenen Pullover, und starrte auf den Lastwagen, auf dessen Anhänger die Hopfenmaschine geladen worden war. Die Maschine, in die er seine ganze Hoffnung gelegt hatte, der all seine Träume von einem leichteren Leben auf dem Feld und einem bescheidenen Wohlstand gegolten hatten. Heute wurde sie abtransportiert.
» Vielleicht musst du dich einfach damit abfinden « , sagte er leise und starrte seiner Maschine hinterher, die auf dem Anhänger den Feldweg am Rande des Hofes erreicht hatte und von dort aus Richtung Landstraße gefahren wurde.
» Ja, vielleicht « , kam es sehr leise aus der Leitung, aus Berlin, aus einem anderen Leben. Dann blieb es still.
Paul hängte auf. In seinem Mund hatte sich die Wut der Enttäuschung und das Gefühl des Versagens zu einem bitteren Geschmack zusammengezogen, den er nun in den Hof spuckte, doch so schnell ließ sich seine Beklommenheit nicht abschütteln. Wie weit weg sie war. Immer hatte sie ihn mit ihrer weichen Stimme rühren können, hatte stets sein Herz erreicht, mit wenigen Worten oder einer Berührung alles aufbrechen können, was sich aus den Verkrustungen einer bitterstrengen Jugend auf sein Innerstes gelegt hatte und ihn manchmal hart oder unduldsam werden ließ. Marie hatte ihn immer zu erreichen gewusst. Das war jetzt anders. Alles in ihm war still geblieben bei ihrem Telefonat. Er hatte keine Sehnsucht gespürt. Nach nichts, nach niemandem. Die einsamen Nächte der letzten Wochen hatten etwas in ihm verstummen lassen, was er nun nicht wiederfand.
Es ging nicht nur darum, dass sie ihn allein gelassen hatte. Viel schwerer wog, dass ihm darüber seine Träume abhandengekommen waren, alles woran er immer geglaubt hatte, war nicht mehr da. Die Einheit seiner Familie, aber auch die Kraft des Fortschritts, der Glaube, dass man mit Fleiß und Ideen die Dinge zum Guten wenden könnte. Es lag im Dreck. In den Hof gespuckt.
*
Paul blieb die ganze Nacht wach. Er wollte nichts mehr fühlen. Sollten ihm doch alle gestohlen bleiben. Aber da war noch etwas. Da wo es wehtat, rumorte es weiter. Das ließ sich nicht abstellen. Und es war dieser Schmerz, der ihn nicht schlafen ließ. Der ihm sagte, dass er handeln musste. Marie und er standen längst an gegenüberliegenden Ufern. In den letzten Wochen hatte sich ein breiter Fluss zwischen ihnen aufgetan, der immer weiter anschwoll. Bald würde es ein Meer sein. Ein Meer, das keiner von ihnen mehr überqueren konnte.
Mitternacht war fast vorüber, als er aufstand, wie in Trance seine beste Hose hervorzog, in ein sauberes Hemd schlüpfte und die Haare kämmte. Er griff nach seiner Zigarettenpackung und schob einige Scheine aus der Wirtschaftskasse ins Portemonnaie. Seinen Hut und seinen guten Mantel in der Hand lief er nach draußen. Als das für den Moosbacher Hof ungewohnt späte Motorengeräusch in die Träume von Elisabeth und Xaver drang, hatte er den Hof schon verlassen.
*
Auf den Straßen um den Kurfürstendamm in Berlin liefen noch immer eine ganze Reihe gutgelaunter Nachtschwärmer herum. Die
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