Der kalte Kuss des Todes
überhaupt nichts zu essen; sie schütteten ständig nur Kognak, Martini und schwarzen Kaffee in sich hinein und rauchten nervös eine Zigarette nach der anderen. Katja schlug sich den Bauch lieber mit Tomaten, gekochtem Kabeljau und gedünsteten Mohrrüben voll. Auf Kaffee verzichtete sie: Abends getrunken, machte er eine schlechte Gesichtsfarbe. Nach dem Essen kauerte sie sich in Wadims Lieblingssessel, zog das Telefon zu sich heran und wählte Sergejs Nummer.
»Grüß dich, Sergej, ich bin’s. Ich muss dich etwas fragen«, legte sie ohne lange Vorrede los. »Erklär mir doch bitte folgende Situation. Ein Mann begeht drei grauenhafte Morde und unternimmt in keinem der Fälle etwas, um die Leichen zu verstecken. Im Gegenteil, er lässt sie an Orten liegen, wo jemand sie sehr schnell entdecken muss. Und nur durch ein schicksalhaftes Zusammentreffen verschiedener Umstände findet man die Toten nicht sofort.«
»Fängst du wieder davon an?« Sergejs Stimme klang erstickt. »Die Oma hat mich heute angerufen. Du kannst dir nicht vorstellen, was derzeit bei uns los ist – es ist unbeschreiblich! (Mit »bei uns« waren die Familien Meschtscherski, Krawtschenko und Basarow samt ihrem großen Bekanntenkreis gemeint.) Irgendjemand hat sogar vorgeschlagen, eine Kollektivbeschwerde an den Generalstaatsanwalt zu schicken. Niemand glaubt, dass Stepan . . .«
»Sei so gut, unterbrich mich nicht. Erklär mir, wonach ich dich gefragt habe.«
»Was gibt es da zu erklären? Es gibt nur drei Möglichkeiten. Erstens: Dem Mörder ist piepegal, ob man die Leichen findet oder nicht – in dem Geisteszustand, in dem er sich zum Zeitpunkt der Morde befindet, denkt er gar nicht darüber nach. Zweitens: Er hat keine Angst, die Leichen liegen zu lassen, weil er sicher ist, dass es keinen Beweis gibt, der ihn verrät. Oder drittens: Er will, dass man die Leichen seiner Opfer möglichst bald findet.«
»Und weshalb?«
»Woher soll ich das wissen, Katja?«
»Na gut.« Katja schwieg einen Moment. »Aber was ist, wenn sein Verhalten sich auf einmal grundlegend ändert? Wenn er ein viertes Opfer tötet und dessen Leiche sorgfältig versteckt?«
»Die Prämissen sind die gleichen. Entweder glaubt der Mörder, dass diesmal etwas nicht richtig gelaufen ist – er hat Indizien hinterlassen, die deutlich auf ihn hinweisen. Oder es ist nicht mehr wichtig, dass die Leiche seines Opfers sofort nach der Tat gefunden wird.«
»Warum?«
»Vielleicht, weil er sein Ziel schon erreicht hat.«
»Was für ein Ziel?«
»Katja, du vergisst schon wieder, dass es nur Theorie ist, eine Abstraktion.«
»Gut, gut. Jetzt noch folgende Frage: Drei Morde werden im selben Bezirk begangen, mehr noch, unter ähnlichen Bedingungen – im Wald, auf einer Datscha. Heißt das, der Mörder hält sich an ein bestimmtes Stereotyp, was den Tatort angeht?«
»Du meinst, dass man auch die vierte Leiche, die noch nicht gefunden wurde, an ähnlichen Orten suchen muss? Ja und nein, Katja. Möglicherweise werden die Taten des Mörders auch von einer völlig anderen Logik diktiert.«
»Von welcher?«
»Die Leiche zu verstecken«, erwiderte Sergej, »ist eine zweckbestimmte Handlung, die fast immer einem Ziel dient: Hinweise zu vernichten, nicht gefasst zu werden. Aber alle meine Hypothesen haben nur unter einer Bedingung einen logischen Sinn. Dass der Mörder nicht psychisch krank ist. Nur in diesem Fall, bei Stepan . . .«
»Er hat mir gesagt, er habe Dmitri bei ihrer Mutter geschworen, niemanden ermordet zu haben. Auch Lisa nicht«, sagte Katja. »Dmitri hat ihm aber nicht geglaubt.«
»Und du?«
»Ich glaube Stepan nicht, Sergej. Nach allem, was geschehen ist, kann ich bloßen Worten ohne Beweise nicht mehr glauben.«
»Und warum rufst du mich dann an und stellst mir so seltsame Fragen?«
»Warum . . . Ich habe nicht nur seltsame Fragen, ich habe auch ein seltsames Gefühl. . . Der Fall hat so banal angefangen. Die übliche Abrechnung zwischen Gangstern, ein Auftragsmord, ein Pate aus der Provinz, der irgendeinen Dämlack mit krimineller Vergangenheit anheuert, um die Rolle des Killers zu spielen. Aber dann ging es mit den Eigentümlichkeiten los . . .«
»Die Idee mit dem Werwolf hast du selbst ja als Erste ins Spiel gebracht, und gar nicht mal zu Unrecht.«
»Ich habe dir aber auch gleich beim allerersten Mal gesagt, dass es hier nicht um Werwölfe geht. Damals ist mir das unwillkürlich rausgerutscht, ohne dass ich mir groß etwas dabei gedacht habe, aber jetzt
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