Der kalte Kuss des Todes
– was ist, wenn es wirklich so wäre? Dass es gar nicht darum geht, meine ich?«
»Du drückst dich sehr nebelhaft aus, Katja.« »Nebelhaft« war ein Lieblingswort von Sergej. »Von mir verlangst du Logik, aber du selbst. . . Mehr kannst du mir nicht sagen?«
»Vorläufig nicht.« Katja seufzte. »Genaueres weiß ich nicht, aber ich kann auch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und nichts tun.«
An diesem unklaren Punkt endete die telefonische Beratung mit Sergej. Katja rollte sich im Sessel zusammen und zog die Beine hoch. Sie schaltete den Videorekorder an, legte eine Kassette mit Musikclips ein und starrte geistesabwesend auf den Bildschirm.
Am nächsten Morgen wachte sie früh auf: Der Wecker zeigte Viertel vor sieben. In ihrem Kopf herrschte Leere; gleichzeitig aber war sie voller Tatendrang. Die Dienstreise nach Rasdolsk hatte bislang noch niemand abgesagt. Um neun fuhr der letzte Vormittagszug – sie durfte sich nicht verspäten!
Dieser Vormittag, der sich den meisten Protagonisten dieser Geschichte aus vielen Gründen tief ins Gedächtnis prägte, begann ganz normal. Alle hatten zu tun, am meisten wohl Kolossow. Nach dem Großeinsatz der Ermittler war eine kurze Ruhepause eingetreten, die man höheren Ortes nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Daher waren Nikita und seine Abteilung beauftragt worden, sich um eine Delegation der finnischen Polizei zu kümmern, die am Vortag im Präsidium eingetroffen war. Nach dem üblichen Erfahrungsaustausch äußerten die Finnen den Wunsch, die berühmteste Sehenswürdigkeit des Moskauer Umlands zu besichtigen – das Troize-Sergijew-Kloster. Und so kam es, dass Kolossow an diesem Junitag viele Kilometer von Rasdolsk entfernt war.
Auch im Rasdolsker Milizrevier begann der Vormittag des 18. Juni so wie immer. Um halb zehn schickte man den Geländewagen des Reviers zum Untersuchungsgefängnis – Stepan Basarow sollte zur Blutuntersuchung ins Institut für biologische Expertisen gebracht werden. Begleitet wurde er von drei Wachsoldaten plus einem Chauffeur. Oberstleutnant Spizyn, der die Vorbereitungen für den Transport kontrollierte, war so weit zufrieden, nur mit dem Wagen nicht. Das Rasdolsker Revier jedoch war leider ärmlich ausgestattet und verfügte über keinen speziellen Gefängniswagen, in dem Häftlinge nach Vorschrift transportiert werden konnten.
Um zehn führte man Basarow in den Hof zum Auto. Er wurde auf die Rückbank gesetzt, zwischen seine Begleiter, doch ohne ihn mit Handschellen an die Männer zu fesseln. Der in diesen Dingen erfahrene Chauffeur riet dazu, den »Bekloppten« an die Eisenstange zu ketten, die das Segeltuchverdeck des Wagens stützte. »Die anderthalb Stunden wirst du’s schon aushalten, Kumpel«, sagte einer der Wachsoldaten. »Auf dem Rückweg drücken wir für unseren Blutspender dann vielleicht ein Auge zu.«
Ächzend setzte der Geländewagen sich in Bewegung – bis Moskau war es noch weit.
Katja traf erst um halb zwölf in Rasdolsk ein. Wozu war sie hergekommen? Was wollte sie hier schon wieder? Es war der reine Tatendurst, der sie antrieb – vielleicht auch ein Gefühl der Schuld gegenüber Lisa.
Von der Bahnstation bis zum Revier war es nur ein Katzensprung, doch die Beine trugen Katja wie von selbst in die entgegengesetzte Richtung – zur Autobusstation nach Uwarowka. Sie fuhr mit dem Bus allerdings nicht bis Uwarowka, sondern stieg eine Haltestelle vorher an der Chaussee aus. Langsam schlenderte sie über die betonierte Straße. Hier entlang war sie mit Sergej zur Gedächtnisfeier auf die Basarow’sche Datscha gefahren . . . über diese Straße hatte Dmitri sie nach jener Nacht im Survival-Camp gebracht. . .
Die Sonne brannte vom Himmel. Nach den Regenfällen schien das Wetter jetzt wieder schön zu werden. Über den Heckenrosen am Wegrand summten die Bienen. Katja stieg einen kleinen Hügel hinunter. Da tauchten auch schon die ersten Datschen von Uwarowka auf. Über den grasüberwucherten Fußweg sauste lärmend und kreischend eine Horde kleiner Jungen auf Fahrrädern an ihr vorbei. Dann erblickte sie plötzlich eine vertraute Gestalt, die ihr entgegenkam, eine gebeugte ältere Frau in Jogginghose und altem, ausgeleiertem T-Shirt – die Hausangestellte der Basarows! Auch Marussja erkannte Katja sofort wieder. »Wollen Sie zu uns, Kindchen? Zu Dmitri? Der muss arbeiten. Vor zwei Tagen war er noch da und hat Lebensmittel gebracht. Er kommt nur selten, hat immer was um die Ohren, muss sich um
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