Der kalte Kuss des Todes
sondern zu dir. Wohin Stepan sieht, kannst du gar nicht feststellen, er hat ja seine Sonnenbrille auf.«
In diesem Augenblick hörte Katja, wie Wadim halblaut zu Meschtscherski sagte: »Onkel Wladimir ist ganz schön heruntergekommen, hast du das bemerkt? Nur noch Haut und Knochen und ganz grau im Gesicht. Es muss ihn doch arg mitgenommen haben.«
Die Leute kamen nun, um der Familie Basarow ihr Beileid auszusprechen. Als Erste kondolierten die Mitglieder der Regierungsdelegation, nach ihnen alle anderen. Ein Kirchenchor begann zu singen.
Endlich waren alle Trauerreden verklungen, der Militärsalut abgeschossen, und alles wurde ruhig. Über dem Grab wuchs ein Sandhügel empor, der im Nu von einem gewaltigen Berg Girlanden, Kränzen, Blumenschalen und Sträußen bedeckt war.
Als alles vorbei war und die Menge langsam den Friedhof verließ, nahm Wadim Katja mit zu den Zwillingsbrüdern. Stepan stand neben Lisa, den Arm lässig um ihre Taille gelegt. Dmitri hatte die Hände tief in den Taschen seines Jacketts vergraben und blickte finster umher.
Erneut fiel Katja die erstaunliche Ähnlichkeit der Brüder auf – beide waren stämmig, mit runden Gesichtern, mittelgroß, gut gebaut. Aber jeder hatte auch seine Besonderheiten: Dmitri neigte sichtlich zur Fülligkeit. Und als Stepan seine dunkle Brille abnahm, um Katja zu begrüßen, zeigte sich, dass er schielte.
»Na denn, Kinder, behaltet meinen Opa in guter Erinnerung. Möge die Erde ihm leicht sein«, sagte er. »Wie steht’s, begießen wir das Ereignis?«
Katja fing Wadims Blick auf, der zu besagen schien: In unserer Männergesellschaft sind Damen nicht erwünscht. Bleib hier, mein Schatz, und halt auch Lisa fest.
»Leider muss ich zurück zur Arbeit«, log Katja, ohne mit der Wimper zu zucken. »Fahrt nur los, Jungs, ihr braucht uns nicht wegzubringen. Lisa und ich finden den Weg auch alleine zurück. Stimmt’s, Lisa?«
Stepan Basarow ließ seinen Blick über sie gleiten.
»Einverstanden«, sagte er. »Danke, dass Sie . . . dass du gekommen bist. Du hast doch nichts dagegen, Katja, dass ich einfach › Du ‹ sage? Sehr schön. Ich mag es nicht, wenn Frauen ständig widersprechen.« Dabei lächelte er Lisa an.
»Wer mag das schon?« Wadim grinste. »Aber trotzdem, Mädels, wir bringen euch erst nach Hause.«
Schweigend gingen sie zu den Autos. Die Sonne brannte heiß vom Himmel. Katja kniff die Augen zusammen. So eine Hitze! Und es war doch erst Mai. Was würde das für ein Sommer werden?
»Ich gehe, ohne den Blick zu heben . . .«
Sie drehte sich um. Hinter ihr schritt Dmitri Basarow. Er hatte den Vers halblaut vor sich hin gesprochen.
»Die Sonne«, erklärte Katja. »Sie ist so grell, dass mir die Augen tränen.«
»Ich erinnere mich an Sie. Wadim hat mir gesagt, Sie hätten ebenfalls Jura studiert.« Dmitri griff in seine Jackentasche. »Hier, nehmen Sie.«
»Was ist das?«
»Damit die Sonne Ihnen nicht in die Augen sticht und Sie nicht das Gesicht verziehen müssen.«
Er befestigte eine Sonnenbrille am Riemen ihrer Handtasche. Es war genau die gleiche Brille wie die seines Bruders, teuer und hochmodern.
»Danke, das ist nicht nötig. Was soll ich damit?«
»Lehnen Sie doch nicht gleich ab! Es ist ja kein Geschenk. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, geben Sie mir das gute Stück zurück. Einverstanden?«
Als die Männer Katja und Lisa an der Metro-Station »Barrikadnaja« abgesetzt hatten und laut hupend davongebraust waren, meinte Lisa: »Mein Gott, die Kerle finden immer einen Grund für ein Besäufnis! Sogar eine Beerdigung kommt ihnen dafür gerade recht. Wenn du wüsstest, Katja, wie müde ich von all dem bin.«
An ihrem bitteren Tonfall, der so gar nicht zu ihrer sonst ironisch abgeklärten Art passte, erkannte Katja: In dieser berühmten Familie, als deren vollwertiges Mitglied Lisa sich bereits fühlte, gab es vieles, worüber vor Außenstehenden nicht gesprochen wurde. Wie übrigens auch in anderen Familien.
Insgeheim hatte sie schon beschlossen, Wadim morgen zu bitten, Dmitri die Sonnenbrille bei Gelegenheit zurückzugeben.
5 Die Spurensucherin
Am Montag kam Katja um halb neun abgehetzt im Büro an und riss sofort das Fenster weit auf. Unten auf der Straße brausten die Autos über den Asphalt. Irgendwo heulte unablässig eine Alarmanlage. Das durchdringende Geräusch übertönte das Liebesgurren der Tauben auf dem Fenstersims. Über den Dächern leuchtete ein strahlendblauer Maihimmel mit lustigen Wolkenlöckchen. Ein
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