Der kalte Schlaf

Entweder-oder.«
    »Aber … Sie sagten vorhin, praktisch würde sich kaum etwas ändern. Warum liegt Ihnen und Luke so viel daran, dass Sie die beiden adoptieren können?«
    »Wollen Sie wissen, ob wir unfruchtbar sind? Sind wir nicht.«
    »Nein.« Er wirkt überrascht. »Das war nicht das, was ich meinte.«
    Ich murmele eine Entschuldigung. Ist eigentlich den meisten Leuten ihre eigene Idiotie so regelmäßig peinlich wie mir?
    »Es ist uns wichtig, weil es Dinah und Nonie wichtig ist«, erkläre ich. »Sie wollen eine Mutter und einen Vater haben.« Kann er das verstehen? Selbst wenn er es kann, ist sein Verständnis nichts wert, wenn er Mariannes Sichtweise – dass keine Notwendigkeit besteht – ebenso nachvollziehen kann wie meine. Wenn keine Notwendigkeit besteht, wenn nichts sich ändern würde, warum dann einen juristischen Kampf auf sich nehmen, mit dem wir nur Zeit und Geld verschwenden, die Kinder durcheinanderbringen und eine arme ältere Dame kränken, die bereits ihre einzige Tochter verloren hat? Ich hole tief Luft und rufe mir in Erinnerung, dass Simon nichts von alledem gesagt hat und ich keinen Grund zur Annahme habe, dass er das denken könnte.
    Ich spreche mit ihm, als würde ich mich an eine Pressekonferenz wenden. Menschen, die Verlautbarungen an die Presse weitergeben, sagen nicht immer die Wahrheit. Sie setzen ihre Wünsche an die Stelle der Wahrheit und präsentieren sie als Tatsache. »Dinah und Nonie wollen Eltern haben, und die werden sie bekommen«, verkünde ich, als wäre kein anderes Ergebnis denkbar.

 
    Allmählich bekomme ich eine Ahnung davon, warum es Amber so schwerfällt, das Little Orchard-Geheimnis loszulassen. Weil sie blitzgescheit ist und – auch wenn ihr das vielleicht nicht bewusst ist – hochgradig intuitiv, spürt sie als Einzige in der Familie, dass bei Jo irgendetwas gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten ist. In den Augen von Neil, Hilary und Sabina ist Jo vermutlich empfindlich – vielleicht ein wenig herrschsüchtig und befehlshaberisch –, aber nur Amber nimmt wahr, dass es mehr ist als das, unheilvoller und bedrohlicher. Doch dank ihrer regelmäßigen Treffen mit Jo weiß sie, dass ihre Schwägerin ein einwandfreies Leben führt, in dem alles offen zutage liegt. Das einzig Unbekannte ist das ungelöste Rätsel: Wo war Jo, als sie an diesem Weihnachtsfest verschwand? Warum verschwand sie? Warum ist sie wieder aufgetaucht?
    Das Geheimnis hinter dem Geheimnis. Amber hofft, dass sie, wenn sie eine Antwort auf die enger eingegrenzte Frage findet, auch die Antwort auf jene Frage finden wird, die sich einer klaren Definition immer wieder entzieht und daher nie gestellt werden kann.
    Aber das muss nicht der einzige Weg sein. Es geht auch andersherum. Lassen Sie es mich beweisen. Dank Ambers wirklich unglaublicher Fähigkeit, das Geschehen verbal nachzuvollziehen, bin ich mittlerweile zuversichtlich, dass ich das schwer fassbare Rätsel lösen kann, obwohl ich immer noch keine Ahnung habe, wohin Jo, ihr Mann und ihre Kinder verschwanden oder warum sie es taten.
    Alles, was ich über Jo höre, sagt mir, dass sie unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet. Sie ist eine klassische Narzisstin. Sie hat solche Angst vor dem Alleinsein, dass sie ihr Haus mit so vielen Leuten wie möglich vollstopft. Sie ist kritisch, setzt andere herab, lässt die Ansichten anderer nicht gelten. Sie ist unberechenbar. Amber, Sie haben uns erzählt, dass Jo zu unverhältnismäßigen Ausbrüchen und verletzenden Bemerkungen neigt, um kurz darauf so zu tun, als wäre gar nichts passiert, und von Ihnen verlangt sie, dabei mitzumachen. Das ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung wie aus dem Lehrbuch. Sie haben mir selbst gesagt, dass Sharon es diagnostiziert hatte, obwohl sie vermutlich nur einen Witz machen wollte, wenn sie sagte, dass Sie der narzisstischen Jo als Bewunderin, Jasagerin und Claqueurin dienen. Durch die Erfahrungen mit ihrer Mutter wusste Sharon Bescheid über gefährliche Narzissten. Narzissten gießen ihr Gift aus, wenn sie sich schlecht fühlen, so wie Sie oder ich laut rülpsen, wenn wir Blähungen haben. Sobald die festsitzenden Blähungen sich gelöst haben, fühlen wir uns besser – wieder normal. Ein Narzisst empfindet keine Schuldgefühle und erkennt nicht, dass seine unerfreulichen Eruptionen andere negativ tangieren könnten.
    Simon, Sie fragen sich, wie ich eine Diagnose bei einer Frau stellen kann, die ich nie getroffen habe? Leider ist