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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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bei Narzissten fast immer nur eine Ferndiagnose möglich. Die meisten hassen und fürchten die Vorstellung, eine Psychotherapie zu machen. Sie machen sich über Therapien lustig, sie beschuldigen Therapeuten, krank und verderbt zu sein und die Köpfe ihrer Patienten mit Lügen vollzustopfen. Narzissten verursachen wenig psychische Probleme für sich selbst – sie leugnen ihre Störung bis in alle Ewigkeit und gehen immer davon aus, dass es die anderen sind, die Schuld an allem haben, was schiefläuft. Es sind die Ehepartner, Kinder und Kollegen von Narzissten, die buchstäblich zu Tausenden zum Therapeuten laufen, wegen des Leidens, das ihnen von Narzissten in ihrem Leben zugefügt wird.
    Und bevor Amber jetzt darauf hinweist, dass Jo ihre Kinder hingebungsvoll liebt … Das ist üblich bei Narzissten, solange die Kinder sie gut dastehen lassen und als Quelle aller Weisheit betrachten. Sobald die hinreißenden Anhängsel aber anfangen, ein wenig unabhängig werden zu wollen oder eigene Ansichten entwickeln, die nicht unbedingt mit den Ansichten des Narzissten übereinstimmen, dann helfe ihnen Gott.
    Kehren wir zurück zu diesem Heiligen Abend in Little Orchard. Jo trifft sich nicht mit Freunden und scheint auch kein Interesse daran zu haben, Freundschaften zu schließen. Sie bevorzugt die Gesellschaft ihrer Familie: ihrer Ursprungsfamilie, ihrer Gegenwartsfamilie und Verschwägerte wie Luke und Amber. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sie in ihrer Ursprungsfamilie das Trauma erlitten, das ihre Persönlichkeitsstörung verursacht hat, aber da es typisch für Narzissten ist, echten Schmerz zu verdrängen und an eine falsche, idealisierte Version des eigenen Ichs, des eigenen Lebens und der eigenen Lebensgeschichte zu glauben, wird Jo ihre Kindheit, ihre Mutter und ihre Geschwister idealisiert haben – vielleicht bis zur Anbetung, sie glaubt an ihre Vollkommenheit.
    Menschen, die der Familie einen zu hohen Stellenwert beimessen – und jemand, der keine Freunde hat, muss zwangsläufig in diese Kategorie fallen –, schätzen die Familie, in die sie hineingeboren wurden, fast immer höher ein als die Familie, die sie mitgegründet haben. Und es ist leicht zu verstehen, warum. In ihrer Herkunftsfamilie wurde ihnen die Vorstellung eingeimpft, die Familie sei wichtiger als alles andere, ganz nach dem Motto: »Alles, was du je brauchen oder wollen könntest, befindet sich innerhalb dieser vier Wände, es besteht also kein Grund, sich hinauszuwagen.« Es wäre ja töricht von der Herkunftsfamilie, Kindern den Glauben zu vermitteln, dass ihre »erwählte« Familie einmal wichtiger für sie sein wird als die bereits existierende, wenn sie erwachsen sein werden, heiraten und eigene Kinder haben. Im Gegenteil, um die eigene Stärke und den eigenen Einfluss aufrechtzuerhalten, flößt die Herkunftsfamilie den Kindern den Glauben ein, dass die Gegenwartsfamilie zwar selbstverständlich wichtig ist – denn die Familie steht schließlich immer an oberster Stelle –, aber niemals ganz so wichtig sein kann wie die Ursprungsfamilie.
    Sie haben sicher beide schon Frauen getroffen, die die Ansichten ihres Mannes ignorieren, aber sich ihrem Vater beugen. Oder Männer, die ihre kleinen Kinder zwingen, ihre eigenen Bedürfnisse zu verleugnen, wenn diese Bedürfnisse für Oma oder Opa unbequem sind. Jo ist ein klassisches Beispiel dafür, und vermutlich ist sie selbst die Tochter einer Narzisstin. Macht es Hilary etwas aus, dass Kirsty komplett auf sie angewiesen ist, oder verlässt sie sich auf diese Bedürftigkeit, um ihr eigenes Ego aufzublähen und sich wichtig fühlen zu können? Narzissten stammen häufig aus Familien und gründen Familien, in denen der Familie übermäßiger Wert beigemessen wird. Das müssen sie auch. Denn wer will schon mit jemandem befreundet sein, der sich so unerträglich und so unberechenbar verhält? Familienmitglieder lassen sich leichter einer Gehirnwäsche unterziehen, und es fällt ihnen schwerer, sich zu entziehen.
    Amber hingegen ist nur Jos Schwägerin. Sie könnte sich leicht entziehen. Sie bräuchte nur eines Abends zu Luke zu sagen: »Jo ist eine bösartige Kuh. Ich will sie nicht mehr sehen.« Warum aber tut sie das nicht?
    Das Geheimnis hinter dem Geheimnis.
    Neil, Jos Mann, hat keine Ahnung, warum er in der Weihnachtsnacht 2003 mitten in der Nacht aufgeweckt und gezwungen wurde, das Haus in aller Heimlichkeit zu verlassen. Er braucht es auch nicht zu erfahren, oder? Er gehört zur Familie,

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