Der kalte Schlaf
klitzekleine.« Einen anderen Grund dafür, ein Haus »Kleiner Obstgarten« zu nennen, gab es nicht, und jeder, der das Glück hatte, eine ausgedehnte Obstplantage hinter dem Garten zu besitzen, sollte besser ehrlich sein und sein Haus Palazzo Prozzo nennen. Oder vielmehr Manoir Prozzo, da die Eigentümerin, Veronique Coudert, vermutlich Französin war.
Warum passierte nichts? Die Worte »Little Orchard« standen immer noch in der Suchmaske. Charlie hatte vergessen, die Enter-Taste zu drücken. Als sie es tat, klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Es war Liv. »Hast du eine Minute?«, fragte ihre Schwester fröhlich, als hätte es die lange Sendepause zwischen ihnen nie gegeben.
Wenn du mir erzählen willst, dass es mit dir und Gibbs aus ist, den ganzen Tag. »Nein. Ich arbeite.«
»Lügnerin. Was macht du wirklich?«
Charlie schnitt dem Telefon eine Grimasse. »Was willst du, Liv?«
»Diese Sharon Lendrim, die durch Brandstiftung gestorben ist, deren Kinder …«
»Davon solltest du überhaupt nichts wissen«, schnitt Charlie ihr das Wort ab und kämpfte gegen das Gefühl von Kurzatmigkeit an, das schlechte Nachrichten immer begleitete.
»Du ebenfalls nicht«, konterte Liv. Und ich werde es melden. Wenn sie nur ihr wahres Gesicht zeigen und das als Nächstes sagen würde, dachte Charlie, es wäre auf seltsame Weise befriedigend.
»Stimmt. Ich ebenfalls nicht.« Der Unterschied ist, dass ich bei der Polizei bin und du nicht. Und ich bin mit Simon verheiratet, ich vögle nicht nur mit ihm, während wir darauf warten, dass er Zwillinge bekommt und ich einen anderen Mann heirate.
»Ich habe nur gedacht: Wenn Kat Allen früher in Fernsehfilmen mitgespielt hat …«
»Liv, ich werde nicht mit dir über einen laufenden Fall diskutieren, der uns beide nichts angeht.«
»Schön.«
Charlie hörte ein lautes Klicken. Sie wurde stutzig. Seit wann war Olivia so leicht loszuwerden? Das war jetzt das zweite Mal in einer Woche, dass Liv ein Gespräch beendet hatte, was die alte Liv nie getan hätte. Ganz gleich, um was es ging, sie wollte immer weiter über das Thema sprechen, bis man zusammengesunken auf dem Boden lag und einem das Blut aus den Ohren rann.
Nein, Charlie würde nicht zulassen, dass sie in diese Falle tappte. Es gab keine alte Liv, auch keine neue Liv. Ihre Schwester war ihre Schwester, derselbe Mensch, der sie immer gewesen war.
Sie kann es sich jetzt leisten, ein Gespräch zu beenden, sie muss nicht mehr klammern. Sie steckt mittendrin, ob es dir nun passt oder nicht. Du kannst sie nicht loswerden.
Charlie starrte auf Fotos eines mit Glyzinien umrankten Hauses aus rotem Backstein, das sie aus irgendeinem Grund an eine Seniorenresidenz erinnerte, und stellte fest, dass sie das Interesse an Little Orchard verloren hatte. Livs Anruf hatte ihr den Spaß daran verdorben.
Du solltest ja auch eigentlich arbeiten, nicht Spaß haben. Konkret sollte Charlie ein Schriftstück mit der Überschrift »Krisenintervention in einem Multi-Behörden-Umfeld: Ein Wegweiser für die Praxis« verfassen. Nicht direkt das, was sie an diesem Nachmittag am liebsten getan hätte, um es milde auszudrücken.
Sie klickte auf »Anfrage und Reservierung«. Es schien einige Buchungen zu geben, obwohl das Haus ja angeblich nicht länger zu vermieten war. Hatte Veronique Coudert Amber tatsächlich auf die schwarze Liste gesetzt, wie Amber vermutete? Was konnte es schon schaden, wenn Charlie es mal ausprobierte? Sie könnte sich per Mail erkundigen, ob das Haus verfügbar war. Spielte es eine Rolle, solange sie einen Rückzieher machte, bevor Geld den Besitzer wechseln musste? Sofern sie Amber nichts davon erzählte, was sie ganz sicher nicht tun würde.
Sie klickte auf »Kontakt zum Eigentümer« und verfasste eine kurze Mail, sie ließ sogar das »Sehr geehrte Damen und Herren« und die »freundlichen Grüße« weg. Sie wollte nicht mehr Zeit auf die Sache verschwenden als unbedingt nötig, also beschränkte sie sich auf das Notwendigste: Ob Little Orchard an irgendeinem Wochenende im Januar 2011 noch frei sei? Sie drückte auf »Senden« und ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich schuldig fühlte. Schließlich hatte sie nicht die Absicht, das Haus tatsächlich zu mieten, damit Amber dort unter Charlies Namen wohnen konnte, ohne Wissen und Erlaubnis der Eigentümerin. Das war empörend. Eine einfache Nachfrage hingegen war harmlos.
Charlie fragte sich, warum sie es für nötig hielt, sich das ständig selbst
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