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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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konnte er nicht, denn er verstand rein akustisch keine der Fragen. Als es ihm schließlich doch gelang, eine der Fragen in ihrer Gänze aufzufangen, erkannte er, dass seine Antwort niemanden mehr interessierte. Die Anwesenden waren dazu übergegangen über Köpfe hinweg und zwischen Leibern hindurch Ankündigungen zur Terminplanung zu machen. Sie riefen sich zu, was getan werden müsse, von wem, wie lange es dauern würde. Simons Name fiel häufig, aber er wurde nicht in die Diskussion miteinbezogen, niemand warf auch nur einen gelegentlichen Blick in seine Richtung, während alle ausführlich und gleichzeitig darlegten, wie sie es trotz all der Dinge, die sie sonst noch zu erledigen hatten, einrichten könnten, mit ihm zu sprechen.
    Am anderen Ende des Flurs – das meilenweit entfernt zu sein schien, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um wenige Meter handeln konnte – brüllte ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit Bürstenschnitt etwas in sein Handy. Es ging um den Preis von geätztem Glas. Obwohl das Thema ihn nicht interessierte, klammerte Simon sich so lange wie möglich an diese Stimme, die aber schon bald von der Kakophonie verschluckt wurde. Er hörte das Wort »Pilates«, wusste, dass er es irgendwo schon mal gehört hatte, und fragte sich, was es bedeutete.
    Es war unmöglich, aus dem Flur in eins der Zimmer zu treten oder dem Wunsch Ausdruck zu verleihen, das zu tun. Plötzlich konnte Simon Jo Utting nicht mehr sehen, die Person, mit der er am dringendsten zu sprechen wünschte. Eben noch hatte sie direkt vor ihm gestanden, und er hatte den Eindruck gehabt, dass sie das Zentrum des Gewühls war – und dann war sie plötzlich nicht mehr da. Im Türrahmen stand eine große Frau mit strähnigem, dunkelblondem Haar, offenbar Mitte dreißig, und starrte Simon mit offenstehendem Mund an. Sie trug einen Schlafanzug mit rosa Elefanten darauf. Simon merkte, dass sie behindert war. Hinter ihr sah er zwei schmale, ungemachte Behelfsbetten, die ihn an Fernsehberichte über Katastrophen erinnerten, an Interviews mit Leuten, die in Sporthallen wohnten, weil ihre Häuser überflutet waren.
    Oder abgebrannt …
    Ein kleiner älterer Mann tauchte unterhalb von Simons Kinn auf und verlangte zu wissen, was denn nun eigentlich unternommen wurde, um einen wichtigen Baum zu retten. Eine Fällgenehmigung sei erteilt worden, und das sei nicht in Ordnung. Es handle sich um den Baum, der an der Ecke Heckencote Road und Great Holling Road stand. Konnte es etwa in Ordnung sein, einen fast hundert Jahre alten Baum zu fällen, damit noch ein Hotel gebaut werden konnte, das das Verkehrsproblem in Rawndesley nur noch weiter verschlimmern würde? Eine offenbar noch ältere Frau überschrie den alten Mann und erklärte, Simon sei nicht hier, um über Bäume zu sprechen. Beide verstummten gleichzeitig, als hätten sie sich gegenseitig ausgelöscht.
    Endlich eine Pause, in die Simon eine Antwort hätte einschieben können, wenn er das gewollt hätte. Das Problem war nur, er hatte keine Ahnung, wer der alte Mann oder die Frau sein mochten. Zudem hatte er das Gefühl, dass seine eigene Identität weniger stabil war als noch vor wenigen Minuten. Ein solch chaotisches Lebensumfeld, eine Familie, war ihm absolut fremd. Er war in einem ruhigen Haus aufgewachsen, in das nie Gäste kamen. Bevor er zu Charlie gezogen war, hatte er selbst nie Besuch gehabt, abgesehen von Charlie, die aber nicht eingeladen worden war und sowieso nicht zählte.
    Die Frau mit dem kontinentaleuropäischen Akzent, Sabina, drängelte sich an dem alten Mann vorbei und packte Simon am Arm. »Ich verweigere die Aussage«, brüllte sie ihm ins Gesicht. Das verwirrte ihn, da er noch gar nichts gefragt hatte. »Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts«, fuhr sie mit einem breiten Cockney-Akzent fort. »Ich kenne meine Rechte. Ich verweigere die Aussage.« Sie begann zu lachen und sagte mit ihrer normalen Stimme: »Das wollte ich immer schon mal zu einem Polizisten sagen. Keine Sorge, es war nur ein Scherz. Hier ist viel los. Wir sind ziemlich laut, tut mir leid.«
    Jo Uttings lockiger Kopf erschien in der Tür, die am weitesten entfernt war. »William, Barney, aus dem Weg«, befahl sie. »Lasst DC Waterhouse durch.«
    William und Barney, dachte Simon. Zwei Personen. Nach Jos Tonfall zu urteilen, vermutlich die beiden kleinsten. Er konnte unmöglich in das Zimmer gelangen, das Jo beherbergte, wenn lediglich zwei Leute sich bewegten, jedenfalls nicht ohne einige schwere,

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