Der kalte Schlaf
bindende Kraft war gebrochen, und das war eine Erleichterung. Sie hatte die Fähigkeit wiedergewonnen, sich frei zu bewegen und frei zu denken, unabhängig von seinen Bewegungen und Gedanken. Er hatte sie freigesetzt. Vorübergehend. Er würde immer in der Lage sein, sie nach Belieben erstarren zu lassen, ihre Wahrnehmung zu verzerren, ihr Selbstgefühl zu entstellen. Es war verrückt, sich einzubilden, Leute wie Ginny Saxon könnten irgendetwas daran ändern.
Sie sprachen nicht, als sie sich ein Bier einschenkten und sich ins Wohnzimmer setzten. Wir tun so, als seien wir normale, zivilisierte Menschen, dachte Charlie, die sich ein Bier holen und auf einen netten, entspannenden Abend einstellen. Sie wusste, Simon würde ihr seine volle Aufmerksamkeit schenken, sobald sie anfing, die Geschichte zu erzählen. Das war der Unterschied zwischen ihnen, einer von vielen. Sogar während sie ihm von Amber Hewerdine und Little Orchard erzählte, würden ihre Gedanken teilweise bei dem sein, was sie gerade über ihn entdeckt hatte, bei dem, was er ihr gestanden hatte. Sah er das ebenfalls so, als Beichte? Würde er später noch einmal über ihr Gespräch nachdenken, oder würde er sich vormachen, es hätte nie stattgefunden?
Charlie hatte das Bedürfnis, mit einem eigenen Geständnis darauf zu reagieren. Wenn sie seine Beschämung hätte auf sich nehmen können, beides empfinden, ihre und seine Scham, hätte sie das frohen Herzens getan. Sie hoffte, er würde in der Lage sein, ihr zu vergeben, was sie jetzt über ihn wusste, und es ihr nicht als neuerliches Eindringen in seine Privatsphäre übelnehmen.
Also beichtete sie, dass sie gestern Nacht Kopien der Akte durch Amber Hewerdines Briefschlitz geschoben hatte. Sie wollte sich dafür entschuldigen, aber Simon winkte ab und sagte, das sei ihm gleich, er habe selbst schon daran gedacht, das zu machen. »Was noch?«, fragte er.
Sie schilderte ihr Treffen mit Amber im Internet-Café, erzählte von dem Gefallen, den sie Amber abgeschlagen hatte, und der Mail, die sie an die Eigentümer von Little Orchard geschickt hatte.
»Warum hast du das getan?«, unterbrach Simon sie. »Irgendeine Französin, die Amber Hewerdine mal ein Ferienhaus vermietet hat, will ihr jetzt keins mehr vermieten? Und?«
»Genau mein Gedanke«, sagte Charlie. »Aber ein kleiner Teil von mir fragte sich, ob dieses Haus, Little Orchard, vielleicht doch irgendwas mit Kat Allen zu tun hatte oder mit dem Brand gestern Nacht oder … Keine Ahnung. Ich hatte einfach nicht begriffen, warum sie ausgerechnet mich um so etwas bitten sollte – es sei denn, weil ich mit dir verheiratet bin. Ich hatte den Eindruck, dass sie dachte, Veronique Coudert und ihr Haus könnten irgendwas damit zu tun haben. Aber sie war sich ihrer Sache nicht sicher genug, um mit dir darüber zu reden. Also kam sie stattdessen zu mir, fast in der Hoffnung, ich würde es dir erzählen oder der Sache nachgehen oder …« Charlie zuckte die Achseln. »Mir fiel kein anderer Grund dafür ein, dass sie eine Polizistin, die sie kaum kennt, bitten sollte, so etwas für sie zu tun.«
»Gut, du hast also eine E-Mail an Veronique Coudert geschickt«, sagte Simon. »Und?«
»Ich habe eine Mail an die Eigentümer von Little Orchard geschickt«, berichtete Charlie ihm. »Als unschuldige Ferienhaus-Interessentin kenne ich seinen oder ihren Namen ja nicht.«
»Und?«
»Hör auf, ›und‹ zu sagen. Halt den Mund, und ich erzähle dir, was und. Die Antwort lautete, ja klar, wann ich das Haus denn mieten wolle?«
»Also lag Amber mit ihrer Vermutung richtig«, meinte Simon nachdenklich. »Sie ist dort nicht willkommen, und nur sie. Und sie hatte keine Ahnung, warum das so sein könnte?«
»Nein, aber das ist nicht das Interessanteste daran. Die Mail der Eigentümerin, aus der eindeutig hervorging, dass sie die Eigentümerin war, war nicht mit Veronique Coudert unterschrieben. Sondern mit Jo Utting.«
»Was?!«
»Also, ich würde mal annehmen, dass Jo Utting und Johannah Utting dieselbe Person ist«, sagte Charlie. »Also frage ich dich noch einmal, und das ohne eine Spur von Eifersucht in meinem nach Sex ausgehungerten Körper: Wer ist Johannah Utting?«
»Amber Hewerdines Schwägerin und beste Freundin«, murmelte Simon. »Nur dass Amber sie nicht besonders mag.«
»Wenn sie sich so nahestehen, wieso wusste Amber dann nicht, dass das Haus Jo gehört? Und wer ist Veronique Coudert? Simon?« Sie hatte ihn an seine eigenen Gedanken verloren.
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