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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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Wichtigtuer wollte Details wissen. Bei den meisten war es nichts Ernsthaftes. Bei Ed schon. Er erzählte uns, seine Tochter sei in den siebziger Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen – er hatte am Steuer gesessen. Es war furchtbar. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte. Es war, bevor es Anschnallgurte auf dem Rücksitz gab, sagte er – glaube ich, aber das weiß ich nicht mehr so genau. Seine Tochter war jedenfalls nicht angeschnallt. Ed stieß mit einem Auto zusammen, das aus dem Nichts auftauchte, und seine Tochter flog durch die Windschutzscheibe und kam ums Leben. Louise – ja, ich glaube, so hieß sie. Oder Lucy. Nein, ich glaube, es war Louise.«
    »Louise oder Lucy«, fasste Proust ungeduldig zusammen. »Wir sollten das hier beenden. DC Gibbs, bitte sorgen Sie dafür, dass die verschiedenen Teile von Ms Hewerdines Kopf samt deren widerstreitenden Hypothesen nach Hause gefahren werden.«
    Gibbs’ Nicken war eine Lüge. Er würde nicht dafür sorgen, weil das nicht nötig war. Waterhouse, der vorhergesehen hatte, dass Proust Amber Hewerdine vorzeitig nach Hause schicken würde, weil er nicht derjenige gewesen war, der angeordnet hatte, sie herzubringen, hatte dafür gesorgt, dass Charlie in ihrem Auto auf dem Parkplatz wartete. Sie sollte Amber Hewerdine anbieten, sie mitzunehmen und die Befragung auf informellere Weise fortsetzen. Würde der Schneemann sie nicht entdecken, wenn er das Präsidium verließ, und die richtigen Schlüsse ziehen?
    Aber spielte das eine Rolle? Gibbs und Waterhouse würden sowieso den Marschbefehl kriegen.
    Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Proust: »Waterhouse, ich erwarte Sie Donnerstagmorgen um neun in meinem Büro – morgen bin ich nicht da. Sie erwarte ich um viertel nach neun, Gibbs.«
    »Warum nicht jetzt gleich, Sir?« Gibbs wollte es gern hinter sich bringen.
    »Jetzt bin ich müde. Am Donnerstag, neun Uhr fünfzehn, nachdem ich um neun mit Waterhouse gesprochen habe. Ist das angekommen, jetzt im zweiten Durchgang? Oder soll ich an Sie beide bunte Armbänder verteilen, wie es in öffentlichen Schwimmbädern üblich ist?«
    Der Schneemann verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
    »Von diesem Mann werde ich Alpträume bekommen«, sagte Amber Herwerdine.

 
    Eine mögliche Herangehensweise an ein Rätsel ist, dass man es zu lösen versucht. Gelingt das nicht, kann man versuchen herauszufinden, ob sich nicht ein zweites, leichter lösbares Rätsel hinter dem Geheimnis verbirgt, das man nicht ergründen kann. Das ist häufig so, und es ist unsere Chance.
    Alles, was bestrebt ist, unsichtbar zu bleiben, verbirgt sich hinter etwas Sichtbarem. Wir könnten sogar noch weitergehen und sagen, unsichtbare Dinge verbergen sich hinter ihrer sichtbaren Entsprechung, weil das die effektivste Deckung ist. Ich würde das gerne mit einer absurde Analogie beweisen: Wenn man den Brotkasten zur Seite schiebt, erwartet man vielleicht, auf dem Regalbrett dahinter Brotkrümel zu sehen. Was man nicht erwartet, ist ein zweiter Brotkasten.
    Wenn es um schwierige menschliche Situationen geht, ist es also immer klug, nach dem Motiv hinter dem Motiv zu suchen, der Schuld hinter der Schuld, der Lüge hinter der Lüge, dem Geheimnis hinter dem Geheimnis, der Pflicht hinter der Pflicht – oder was auch immer Ihnen in diesem Zusammenhang einfällt.
    Und vergessen Sie nicht: Ein Geheimnis, das nicht zu knacken ist, wie Little Orchard, kann es sich leisten, sichtbar zu sein. Wenn Jo und Neil nicht ihr Schweigen brechen, was unwahrscheinlich scheint, wird niemand je herausfinden, was in jener Nacht geschehen ist. Es lässt sich unmöglich erraten, alle Annahmen erscheinen gleichermaßen unwahrscheinlich – was im gleichen Zug bedeutet, dass alle gleichermaßen plausibel erscheinen. Aber was ist mit einem Rätsel, das relativ leicht zu lösen wäre, wenn jemand von seiner Existenz wüsste, weil es lediglich eine Hand voll möglicher Antworten gibt? Ein solches Geheimnis ist verwundbarer. Es ist ein bedauernswertes, schutzloses Geschöpf, dessen einzige Hoffnung auf Überleben darin besteht, unbemerkt zu bleiben, bis es allen Betroffenen egal geworden ist.
    Die meisten Organismen sind verzweifelt bestrebt, in der Form zu überleben, die sie gegenwärtig haben. Warum sollte das bei Geheimnissen anders sein? Ja – je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee. Kommen wir später wieder darauf zurück.
    Ist es ein reines Wunschdenken, anzunehmen,

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