Der kalte Schlaf
dass das Geheimnis allen Beteiligten irgendwann einmal egal sein wird? Nicht im Mindesten. Wissensdurst hält nicht ewig vor. Er ähnelt eher einem Gummiband – unser Impuls, eine Lösung zu finden, wird gedehnt und gedehnt, bis er plötzlich überdehnt wird, reißt und alle Spannung verliert. Das kann bemerkenswert rasch geschehen, sofern nicht bestimmte Bedingungen gegeben sind: Es steht unglaublich viel auf dem Spiel, es geht um eine Ungerechtigkeit, es hat Auswirkungen auf unseren Status in den Augen der Welt oder unseren eigenen, ob wir die Lösung finden oder nicht. Oder – und das ist der wahrscheinlich wichtigste Faktor, der dazu beitragen kann, den Impuls aufrechtzuerhalten – wir glauben, dass wir eine Chance haben, es herauszufinden, wir glauben, das Geheimnis irgendwie ergründen zu können.
Ich hoffe, ich habe jetzt genug gesagt, um das Geheimnis hinter dem Geheimnis von Little Orchard in den Fokus zu rücken.
Nein?
Warum ist Amber die Einzige, die Jahre später immer noch besessen davon ist herauszufinden, was Jo und Neil unbedingt verbergen wollen? Warum ist es ihr immer noch so wichtig? Das ist das wahre Geheimnis hinter dem Geheimnis von Little Orchard.
Es ist nicht so, als stünde viel auf dem Spiel: Jo, Neil und ihre beiden Kinder sind unverletzt zurückgekehrt. Es geht allen gut, jedenfalls scheint es so.
Glaubt Amber, dass sie eines Tages die Wahrheit herausfinden wird? Im Gegenteil, der Gedanke, dass sie es nie herausfinden wird, macht sie wütend. Und das ist ein weiterer entscheidender Punkt: Menschen werden wütend, wenn ihr Status bedroht ist, wenn sie das Gefühl haben, heruntergestuft oder unfair behandelt worden zu sein. Aber wo liegt hier die Ungerechtigkeit?
Glaubt Amber, dass jemand anders es weiß, jemand, der weniger wichtig ist als sie, der es weniger verdient hat, im Besitz der Information zu sein? Oder ist sie aus einem anderen Grund überzeugt, das Recht zu haben, diese sehr private Sache zu erfahren, die Jo ganz offensichtlich für sich behalten will? Ist sie einfach neugierig und verzogen, achtet sie die Grenzen anderer Leute nicht?
Könnte es sein, dass Jo ihr ein Geheimnis schuldet?
3
D IENSTAG , 30. N OVEMBER 2010
Ich sitze in Sergeant Zailers Auto. Schon wieder. Diesmal hat sie mich dazu aufgefordert. Sie ist gebeten worden, mich nach Hause zu fahren. Warum, begreife ich nicht. Wenn ich die Ermittlungen im Mordfall Katharine Allen leiten würde, hätte ich darauf bestanden, dass wir alle in diesem grässlichen gelben Raum bleiben, bis es Fortschritte gibt.
Wenn nötig, wäre ich die ganze Nacht aufgeblieben und hätte mir einen Schnelldurchgang durch mein Leben angehört – jeder Ort, an dem ich mich aufgehalten habe, jeder Mensch, dem ich je begegnet bin –, in der Hoffnung, den Augenblick aufzuspüren, in dem ich dieses Blatt Papier gesehen habe.
Lieb – Grausam – Liebgrausam.
Wo auch immer ich es gesehen haben mag, es kann nicht in einem Vakuum geschehen sein. Irgendwo muss ich es ja gesehen haben, also warum ist dieses Irgendwo nicht Teil der Erinnerung? Wenn ich das Bild von diesem linierten Blatt Papier nur irgendwie mit einem Hintergrund verbinden könnte, würde mir sicher alles wieder einfallen. Ich würde eine Verbindung zwischen diesem Umfeld und einer Person oder mehreren Personen herstellen können.
Ich würde wissen, wer Katharine Allen ermordet hat.
Nein. Würde ich nicht. Selbst wenn das Blatt Papier, das ich irgendwo gesehen habe, dasselbe sein sollte, das von dem Block in ihrer Wohnung abgerissen wurde, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass es irgendwas mit ihrem Tod zu tun hat.
Ich kneife die Augen zusammen und versuche, mir das Bild eines Zettels vor Augen zu rufen, der auf einem Tisch oder einem Schreibtisch liegt, aus einer Akte herausragt, an den Kühlschrank geheftet oder an eine Wand gepinnt ist. Es hat keinen Zweck, keiner dieser Hintergründe passt – oder vielmehr, keiner passt besser oder schlechter als alle anderen. Das Bild von dem Blatt Papier hängt in völliger Schwärze, es ist gänzlich unverankert.
»Hören Sie auf, es erzwingen zu wollen«, sagt Sergeant Zailer. »Laut Sie-wissen-schon-wem ist es kontraproduktiv, sich erinnern zu wollen. Lassen Sie einfach kommen, was aufsteigen will, und wenn nichts kommt, ist es auch gut.«
»Ginny Saxon? Das hat sie zu Ihnen gesagt?«
»Ja.« Ihr Plauderton kann mich nicht täuschen. Sie wünscht sich, ich wüsste nicht, dass sie zu einer Hypnotherapeutin gegangen ist,
Weitere Kostenlose Bücher