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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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imitiert.
    »Nein, tue ich nicht. Glauben Sie mir, meine schmerzlichen Erinnerungen sind wirklich sehr extrovertierte Gesellen. Es ist die nächste Straße rechts.«
    »Ah, aber was ist mit dem, was Ihnen ein schlechtes Gewissen macht, den Erinnerungen, bei denen Sie sich vor Scham winden, wann immer Sie daran denken?« Sie hört sich angesichts des Themas irritierend fröhlich an. Hat Ginny sie davon überzeugt, dass Leiden Spaß macht?
    »Immer noch keine Verdrängung«, sage ich. »Alle meine schuldbeladenen Erinnerungen melden sich täglich zur Stelle. Halten Sie hier einfach irgendwo. Das ist mein Haus – das da, das erleuchtet ist wie ein Kürbis an Halloween.« Nonie fürchtet sich vor der Dunkelheit und behauptet, das Haus hätte ebenfalls Angst davor. Sie schläft mit eingeschalteter Schreibtischlampe und kann an keinem Zimmer vorbeigehen, in dem kein Licht brennt, ohne »das Licht anzuknipsen, um das Zimmer aufzuheitern«.
    Ich überlege, ob Dinah noch auf ist. Keins der beiden Mädchen hat eine feste Zubettgehzeit. Nonie will immer zwischen halb acht und acht schlafen gehen. Dinah geht manchmal um acht ins Bett, manchmal hält sie aber auch gegen zehn noch Hof.
    »Also«, sagt Sergeant Zailer, als sie am Straßenrand hält. »Weswegen fühlen Sie sich schuldig?«
    Aber natürlich. Blöd von mir zu glauben, dass wir uns einfach nur unterhalten haben. Für Sergeant Zailer bin ich ein Objekt, und sie hat den Auftrag, es zu vernehmen, nichts weiter.
    Ich soll alles sagen und darf nichts fragen.
    »Wegen gar nichts«, entgegne ich und steige aus. »An allem Schlimmen, was mir je zugestoßen ist, waren andere schuld.«
*
    Luke steht im Flur, als ich hereinkomme. Er muss das Auto gehört haben. Er lacht über meinen Anblick, als ich den Mantel ablege und ihn an einen Haken hänge. Ich bin im Zusammenhang mit einem Mordfall von der Polizei vernommen worden, und er lacht. Kann denn gar nichts diesen Mann beunruhigen? »Du siehst aus, als könntest du ein Glas Wein vertragen«, sagt er.
    »Ein Glas?« Warum nicht gleich einen Fingerhut? »Füll den größten Kochtopf, den wir besitzen, mit Sauvignon Blanc und reich mir einen Strohhalm.« Ich entferne eine zweite Kleidungsschicht: meinen Pullover. Zu den Dingen, die ich an diesem Haus liebe, gehört, dass es hier immer warm ist, obwohl es so aussieht, als würde es eher kalt sein. Dabei gefällt mir die Gemütlichkeit genauso gut wie die Nichterfüllung der Erwartung.
    »So schlimm?«, fragt Luke.
    »Schlimmer. Ich fall in Ohnmacht, wenn ich nicht gleich was zu essen kriege.«
    »Es ist noch jede Menge Chili da. Ich wärm dir was auf.« Er geht in die Küche und fängt an, energisch herumzuwirtschaften. Ich folge ihm und hoffe, es bis zum nächsten Stuhl zu schaffen, damit ich am Küchentisch zusammensinken kann. »Sind die Kinder schon im Bett?«
    »Ja. Dinah ist um halb sieben auf dem Sofa eingeschlafen. Ich musste sie nach oben tragen.«
    Ich hebe ungläubig die Augenbrauen, was mich mehr Anstrengung kostet, als es sollte. Die Hitze der Warmhalteplatte, die Luke im Winter gern anlässt, um einen Holzofenherd-ähnlichen Effekt zu erzielen, macht mich schläfrig, als wären meine Glieder zu schwer, um auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
    »Dinah hat einen stressigen Tag hinter sich. Ich habe den Befehl, dir alles zu erzählen.« Er reicht mir einen extragroßen Keramikbecher mit Weißwein: ein Kompromiss.
    »Was ist passiert?«, frage ich, nicht weil ich begierig darauf wäre, mich in die Details von Dinahs neuester Auseinandersetzung mit Mrs Truscott zu vertiefen, sondern weil es nur zwei andere Dinge gibt, über die wir heute Abend wahrscheinlich sprechen würden, und beiden kann ich mich im Moment nicht stellen: meine Entführung durch die Polizei und das geöffnete Schreiben vom Jugendamt, das vor mir auf dem Tisch liegt. Es liegt dort nicht zufällig. Das ist Lukes Art, mir mitzuteilen, dass wir über unser Antithema Nummer eins reden müssen. Ich war nicht hier, als er den Brief geöffnet hat, aber ich kann mir genau vorstellen, wie er furchtlos den Umschlag aufreißt.
    Wenn ich die Tapfere wäre und er der Feigling, würde ich ihn zwingen, sich der Sache zu stellen? Würde ich ihm den Brief laut vorlesen, wenn er nicht gewillt wäre, ihn selbst zu lesen?
    »Wusstest du, dass Dinah ein Stück geschrieben hat?«, fragt er und rührt das Chili um.
    »Nein.« Es ist zu ermüdend, Dinge zu wissen . Der Gedanke ist so untypisch für mich, dass ich ganz

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