Der kalte Schlaf
erschrocken bin. Ich brauche etwas zu essen. »Das Chili ist jetzt bestimmt warm genug, wenn es seit heute Nachmittag auf der Warmhalteplatte steht«, sage ich zu Luke. »Wie auch immer, ich will es jetzt.«
»Es heißt Hektor und seine zehn Schwestern . Es geht um einen achtjährigen Jungen, dessen Mutter ihn zwingt, Rosa zu tragen. Es strengt sie so sehr an, sich um ihre elf Kinder zu kümmern, dass sie es nicht schafft, für jedes Kind andere Anziehsachen zu kaufen oder getrennte Kleidung für die Schule und für die Freizeit – zu viel Arbeit. Also beschließt sie, alle in eine Einheitskluft zu packen, eine Art Uniform, und da zehn ihrer elf Kinder Mädchen sind, die auf Pink stehen, denkt sich die Mutter, dass es doch praktisch ist, wenn die Uniform rosa ist.« Luke hat mir den Rücken zugewandt, aber ich kann hören, dass er lächelt. »Hektor hat keine Wahl, er muss mitmachen, und bald will keiner seiner Kumpels mehr mit ihm spielen …«
»Was hat das mit Mrs Truscott zu tun?«, unterbreche ich ihn. Ein andermal würde ich gern alles über Hektor und seine Schwestern erfahren. Aber nicht jetzt.
Luke knallt mir eine Schale Chili hin und reicht mir eine Gabel. Ich weiche dem heißen Dampf aus, der daraus aufsteigt, und es gelingt mir, nicht zu fragen, ob noch genug für eine zweite oder dritte Portion da sei. Er würde nur sagen, iss erst mal diese Portion auf, dann sehen wir weiter. Gelegentlich erinnert er mich daran, dass wir in einem Industrieland leben und nur etwa fünfzig Schritt von einem China-Imbiss, einem indischen Restaurant, einem kleinen Supermarkt und einem Hofladen entfernt sind. Es ist unwahrscheinlich, dass ich Opfer einer Nahrungsmittelknappheit werde.
»Dinah hat das Stück Miss Emerson gezeigt, und die meinte, es sei das Beste, was ein Kind ihres Alters je auf dieser Schule geschrieben habe.«
Unwillkürlich muss ich lächeln. Dinah neigt dazu, jedes Kompliment aufzubauschen, das ihr gemacht wird. Zac, ein Freund von Luke, der mit ihm gedient hat, sagte einmal zu ihr, ihr Haar sähe gut aus, und sie fand nichts dabei, zu erzählen: »Er hat die ganze Welt bereist und nirgends, in keinem Land, jemanden gesehen, der so schönes Haar hat wie ich.«
»Miss Emerson hat vorgeschlagen, das Stück in der Schule aufzuführen. Sie fragte Dinah, ob sie etwas dagegen habe, wenn sie das Stück Mrs Truscott zeigt …«
»O Gott«, murmele ich mit vollem Mund. Das ist mein Lieblingsessen: Voller höllisch scharfer roter Chilischoten, die Luke hineingetan haben wird, nachdem er und die Mädchen gegessen hatten. Ich bin Masochistin. Ich liebe Gerichte, die mich weinen und schwitzen lassen.
»Mrs Truscott fand das Stück nicht angemessen. Warum?« Er schenkt neuen Wein in meinen Becher. »Weil es keinen Grund dafür geben würde, dass Jungs kein Rosa tragen sollten, und wir dürften die Geschlechterstereotype nicht verstärken oder den Eindruck erwecken, es wäre etwas Furchtbares, Schwestern zu haben.«
Ich stöhne. Ist es egoistisch, mir zu wünschen, dass in der Schule immer alles glattlaufen sollte, sodass ich mich gedanklich nicht damit beschäftigen und nichts unternehmen muss? Wenn ich Nonie und Dinah vom Bus abhole und sie frage, wie es heute in der Schule war, würde ich verzweifelt gern die Antwort hören: »Gut, wir hatten großen Spaß und haben viel gelernt, und ansonsten ist nichts Erwähnenswertes vorgefallen.«
»Wann ist das alles passiert? Warum hat Dinah nichts gesagt?«
»Sie wollte allein damit klarkommen, und das ist ihr auch gelungen. Auf bewundernswerte oder unaufrichtige Weise oder beides, je nachdem, wie man es sieht. Sie stimmte Mrs Truscott vollkommen zu und erklärte, klar spräche nichts dagegen, dass Jungs Rosa tragen, genau das habe sie ja mit ihrem Stück ausdrücken wollen: Wenn Hektors Freunde ihn nicht gehänselt hätten, hätte er nicht zu solch drastischen Maßnahmen greifen müssen, und die zehn Schwestern hätten kein tragisches Ende gefunden. Sie ziehen Hektor gnadenlos damit auf, dass er Rosa tragen muss, und werden furchtbar dafür bestraft. Mrs Truscott fiel darauf herein und gab die Erlaubnis, dass Dinahs Stück Weihnachten aufgeführt werden könne, vorausgesetzt, dass der Unterricht nicht darunter leiden würde. Dinah ließ interessierte Mitspieler vorsprechen und setzte sogar ein Besetzungskomitee ein, damit alle Entscheidungen fair getroffen wurden. Ich glaube, das war Nonies Idee. Jedenfalls war sie Mitglied des Komitees. Miss Emerson half bei dem
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