Der kalte Schlaf
Nachricht wegen Sharon Lendrim erhalten hat. Ich habe extra den Großteil der Geschichte zurückgehalten, damit er einen Anreiz hat, sich zu melden.« Sam zuckte die Achseln. »Ich habe nichts von ihm gehört.«
»Nehmen Sie’s nicht persönlich. Erzählen Sie’s stattdessen mir, wenn Sie sich die Mühe machen wollen.«
Sam war schockiert. »Es ist mein Job, mir diese Mühe zu machen.« Ein Job, den ich schon bald nicht mehr haben werde.
»Schauen Sie, wir wissen beide, was morgen früh passieren wird«, sagte Gibbs. »Waterhouse um neun, mir um viertel nach neun. Ich dachte nur …«
»Noch ist nicht morgen.« Sam empfand leichte Panik. »Noch ist heute, und Sie arbeiten für mich.«
»Schon gut, Sie brauchen nicht Ihren Rang raushängen zu lassen.«
Sam lachte. »Die meisten Detective Sergeants lassen ihren Rang mehrmals täglich raushängen, und das jeden Tag. Wenn ich das öfter getan hätte, würden wir jetzt vielleicht nicht so in der Tinte sitzen.« Gibbs starrte ihn kurz an und wandte sich dann wieder seinem Bier zu.
Was hast du erwartet? Soll er sagen: Machen Sie sich keine Vorwürfe, Sie hätten nichts tun können? Klar wollte Sam ihm von dem Mord an Sharon Lendrim erzählen. Von allen Gesprächen, die am heutigen Tag zwischen ihnen denkbar waren, versprach dieses am leichtesten zu werden.
»Momentan weiß ich nur, was ich von DS Ursula Shearer von der Kripo Rawndesley erfahren habe. Sharon Lendrim wohnte in Rawndesley, in der Monson Street. Sie war alleinerziehend, hatte zwei Kinder und arbeitete als Ernährungsberaterin für Diabetiker im Krankenhaus.«
»Haben die Kinder denselben Vater?«, fragte Gibbs.
»Das weiß niemand, aber es waren zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Väter bekannt. Laut Sharons Mutter Marianne ist Sharon wohl zu einer Samenbank gegangen – aus reiner Gehässigkeit gegenüber der Mutter, weil sie wusste, die würde dagegen sein. Laut DS Shearer ist Gehässigkeit die einzig normale Reaktion auf Marianne Lendrim.«
»Wurde ihr Alibi überprüft?«, fragte Gibbs.
»Ja. Am 22. November 2008 war sie in Venedig, in der Wohnung einer Freundin. Also wer auch immer nachts um zehn Minuten nach eins Benzin durch den Briefschlitz in Sharons Haus geschüttet und ein Streichholz hinterhergeworfen hat, es kann nicht Marianne gewesen sein.«
Gibbs runzelte die Stirn. »So ist es passiert?«
»Sharon lag schlafend im Bett und starb an einer Rauchvergiftung.«
»Was ist mit den Töchtern?«
»Das ist das Interessante. Sobald der Brand sich ausgebreitet hatte, wurden Nachbarn aufmerksam und riefen die Feuerwehr. Als die kam, fanden sie Sharon tot im Haus und die Betten der kleinen Mädchen leer vor. Sie hatten erwartet, die beiden Schwestern zu finden, die laut der Nachbarn im Haus lebten, eine Fünfjährige und eine Sechsjährige.«
»Sie waren in Venedig mit der bösen Großmutter?«, riet Gibbs.
»Nein«, sagte Sam. »Viel zu einfach. Während ihre Mutter allein zu Hause starb, waren Dinah und Nonie Lendrim in einem Pub.«
*
Charlie führte eine Liste, auf der sie vermerkte, auf welche Weise ihre Lebensqualität durch die Affäre ihrer Schwester mit Chris Gibbs vergällt wurde. Manchmal vergaß sie, bei welcher Nummer sie angelangt war. Bei dem neuesten Punkt auf der Liste, der ihr soeben eingefallen war – sie hatte nicht vorschlagen können, dass sie und Liv sich in der Brown Cow trafen, ihrem allerliebsten Lieblingspub, aus Angst, Gibbs könne sich gerade dort aufhalten –, handelte es sich entweder um Nummer sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig.
Charlie hätte als alternativen Treffpunkt etwas Schickeres wählen können oder ein Lokal in einer ähnlichen Kategorie wie das Brown Cow, aber stattdessen hatte sie sich für das Web & Grub entschieden, ein kleines, miefendes Internet-Café mit Blick auf die Sozialbausiedlung Winstanley Estate, das sich die Räume mit einem Kleintaxi-Unternehmen teilte und kein warmes Essen servierte. Das heutige schmackhafte Tagesangebot bestand aus fünf Sandwiches, die verloren auf dem Tresen standen, zwischen der Kasse und dem selbstgebastelten Karton für die Trinkgelder: zwei mit Thunfisch und Majo und drei Käse-Sandwiches, alle in dreieckigen Plastikverpackungen. Heiße Getränke wurden in Styroporbechern serviert. Für Gäste, die kalte Getränke bevorzugten, gab es Mineralwasserflaschen sowie kleine Tetra-Packs mit Orangensaft und Johannisbeer-Limo in einem großen summenden Kühlschrank, dessen Glastür mit schmierigen
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