Der kalte Schlaf
jetzt komme ich passiv-aggressiv rüber, als würde ich etwas sagen, obwohl ich etwas ganz anderes meine. Ehrlich, das tue ich nicht.«
»Ich war bei einer Hypnotherapeutin«, verkündete Charlie. Es war leichter, damit herauszurücken, während Liv drauflosschnatterte. Nur dass sie jetzt schwieg, und das bedeutete, dass sich der Rest von dem, was Charlie zu sagen hatte, gegen den Druck aufmerksamen Schweigens würde behaupten müssen. »Also, ich war einmal bei ihr, aber ich werde vermutlich wieder hingehen. Wegen dem Rauchen. Ich will das Rauchen aufgeben. Bei wahnsinnig vielen Leuten scheint es geholfen zu haben, also dachte ich mir, ich versuch’s mal. Es ist keine große Sache, und ich hätte es auch gar nicht erwähnt, wenn nicht …«
»Du wolltest eine Ausrede, um dich wieder bei mir zu melden?«, schlug Liv hoffnungsvoll vor.
Charlie atmete tief ein und behielt die Luft so lange wie möglich in der Lunge – sie stellte sich vor, es wäre Nikotin. »Wie sich herausstellte, habe ich mir die falsche Person ausgesucht«, sagte sie schließlich. »Ich will nicht in die Details gehen, aber wie es scheint, gibt es da möglicherweise eine Verbindung zwischen meiner …« Charlie brachte es nicht über sich, »Therapeutin« zu sagen. »Zwischen dieser Hypno-Frau und einem Fall, den Simon gerade bearbeitet.« Hypno-Frau, Therapeutin – Charlie wusste nicht genau, was schlimmer klang.
»Welcher Fall?«, fragte Liv. »Doch nicht Kat Allen?«
Charlie aktivierte sofort alle vorhandenen Verteidigungssysteme. Es erforderte keine Anstrengung, sie empfand kaum noch etwas. Ihre Seele war daran gewöhnt, eine tapfere Haltung zur Schau zu stellen – jahrelange Übung.
Natürlich, Liv wusste alles über den Mord an Katharine Allen. Von Gibbs. Kat. Als hätte sie die Frau ihr Leben lang gekannt. Da Liv eben Liv war, sah sie keine Notwendigkeit, das für sich zu behalten. Warum sollte sie der Schwester nicht deutlich vor Augen führen, wie weit sie bereits in ihre Welt eingedrungen war? Es gab die unterschiedlichsten Methoden, mit denen Leute die Aufmerksamkeit von ihrer Selbstbezogenheit ablenkten. Livs Methode war es, ihren Egoismus hinter einer Maske naiver, kindlicher Begeisterung zu verbergen.
»Simon musste mit seinen Kollegen ganz offen über meine Verbindung zu dieser … Frau … sprechen – Ginny heißt sie –, und ich wollte nicht, dass du es von jemand anderem erfährst.«
Simons Worte nachzuplappern, als würde sie sie selbst glauben, war nicht so schwer, wie sie befürchtet hatte. Olivia brauchte nicht zu erfahren, wie sehr Charlie ihren Mann im Augenblick verabscheute oder dass dieser Abscheu in keinster Weise ihre Liebe zu ihm schmälerte, was ihren Groll noch verstärkte.
Er hätte sie nicht zu demütigen brauchen, indem er ihr Notizbuch den Kollegen zeigte, sodass jeder, der wollte, einschließlich Gibbs, ihre würdelosen, unzustellbaren Briefe an Olivia lesen konnte, die sie nie hatte abschicken wollen. Charlie hatte Simon unter Tränen gebeten, nur die relevante Seite herauszureißen und mitzunehmen, die »Liebgrausam«-Seite. Als das fehlschlug, versuchte sie es anders. Sie hatte ihn gebeten, doch Vernunft anzunehmen, sich fünf Minuten oder eine halbe Stunde Zeit zu nehmen, so lange es eben dauerte, und sich mit Charlies Hilfe eine akzeptable Lüge auszudenken, die es ihm ermöglichen würde, den Kollegen alles zu sagen, was sie wissen mussten, ohne seinen Job zu gefährden.
Nein, das konnte er nicht. Oder vielmehr, er wollte es nicht. »Ich habe es satt, dass alles immer so kompliziert ist«, hatte er erklärt. »Ich habe neue Informationen. Ich muss diese Information weitergeben. Und da soll ich anfangen, irgendwas einzufädeln, zu planen, zu intrigieren und mir Sorgen wegen meines Jobs zu machen? Weder ich noch irgendjemand anders sollte das tun müssen. All das ist reine Energieverschwendung. Wenn jemandem die Wahrheit nicht gefällt, ist das sein Problem. Mir gefällt die Wahrheit manchmal auch nicht, aber damit müssen wir eben alle leben.«
Charlie schaffte es besser als die meisten Menschen, sich der Wahrheit zu stellen – musste wohl so sein, denn warum sonst fühlte sie sich oft so elend? –, aber wenn es irgend ging, hätte sie gern gewisse Wahrheiten für sich behalten: ihren Besuch bei einer Hypnosetherapeutin, die emotionalen Briefe, die sie in dem naiven Glauben geschrieben hatte, niemand außer ihr würde sie zu Gesicht bekommen. In ihrer Panik platzte sie mit einer Reihe
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