Der kalte Schlaf
stopfen, die durch Sharons Abwesenheit entstanden war, würde ich am liebsten im Erdboden versinken.
Ich nehme die ausgedruckten Seiten mit nach oben und setze mich wieder vor den Computer. Der verrückte Impuls, Veronique Coudert noch eine Mail zu schicken, überkommt mich. Ich beschließe, ihm zu folgen, bevor der gesunde Menschenverstand seinen spaßbremsenden Einfluss geltend machen kann. Was soll es schon schaden? Das schlimmste Szenario sieht so aus: Eine Französin, der ich nie begegnen werde, kommt zu dem Schluss, dass ich sie nicht mehr alle habe – na und?
»Liebe Veronique«, tippe ich. »Danke für Ihre Antwort. Sagen die Worte ›Lieb – Grausam – Liebgrausam‹ Ihnen irgendetwas? Oder der Name Katharine (Kat) Allen? Mit freundlichen Grüßen, Amber Hewerdine.« Mit hämmerndem Herzen drücke ich auf »Senden«. Dann wende ich meine Aufmerksamkeit den Seiten zu, die ich von Charlie erhalten habe.
Es ist enttäuschend. Das ist nicht ihre Schuld, sondern meine – ich hatte erwartet, dass mir irgendwas Bedeutsames ins Auge springen würde. Ich lese alles zweimal durch und finde keine Verbindung zwischen meinem Leben und dem von Katharine Allen. Sie wurde in Pulham Market geboren, wo ihre offenbar glücklich verheirateten Eltern immer noch leben. Sie hat zwei Schwestern: eine ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Belize, die andere ist unverheiratet, hat ein Baby und wohnt in Norwich. Katharine war Grundschullehrerin an der Meadowcraft School in Spilling. Sie und ihr Freund Luke wollten gerade zusammenziehen, als sie ermordet wurde. Luke hat ein bombensicheres Alibi und stand nie unter Verdacht.
Kat Allens Freund hat denselben Vornamen wie mein Mann. Aber das zählt wohl kaum als Verbindung.
Eine neue Mail von Veronique Coudert erscheint in meinem Posteingang. Ich klicke sie an, um sie zu öffnen. Sie lautet: »Liebe Ms Hewerdine, bitte antworten Sie nicht auf diese Nachricht. Mit freundlichen Grüßen, Mme Coudert.«
Zwei mitten in der Nacht verschickte E-Mails, zwei sofortige Antworten. Seltsam. Sie kann doch unmöglich vor dem Computer gesessen und darauf gewartet haben, dass eine ihr völlig unbekannte Frau sie kontaktiert. Es sei denn, Neil hätte sie vorgewarnt … Nein, das ist absurd.
Ich nage an der Innenseite meiner Unterlippe und denke nach. Bitte antworten Sie nicht auf was? Es gibt nichts, auf das ich antworten könnte. Und sie nennt sich nicht mehr Veronique, sondern Madame, sie will mich loswerden.
Ich schnüffle und bilde mir ein, etwas Schlechtes zu riechen: noch mehr Lügen. Es ist möglich, unglaublich subtil zu lügen, indem man die Abwesenheit einer Nachricht als Nachricht bezeichnet.
Sie hat nicht auf meine Fragen geantwortet. Sie hätte es tun können, aber sie hat es nicht getan.
Weil sie aufdringlich und unpassend waren.
Ich seufze und wende meine Aufmerksamkeit wieder der Akte zu. Katharine Allen war in der Schule beliebt. Ihre Schüler und die Kollegen mochten sie sehr gern. Sie war freundlich, hilfsbereit, eine Teamspielerin …
Das alles zum dritten Mal zu lesen, bringt mich nicht weiter. Der einzige halbwegs interessante Umstand ist, dass Kat Allen als Kind in drei Fernsehfilmen mitgewirkt hat. Obwohl »mitgewirkt« vielleicht ein bisschen übertrieben ist, da sie erst vier, fünf und sechs Jahre alt war, als sie ihre drei Rollen spielte: »schüchternes Mädchen im Bus« in dem Film Bubblegum Breakdown , »zweites ertrinkendes Mädchen« in Sauber weggespült und »Lilly-Anne« in den Puppengesicht-Tagebüchern . Auch ihre beiden Schwestern hatten kurze Auftritte als Kinderstars. Es ist klar, dass der Ermittler, von dem der Bericht stammt, den schauspielerischen Hintergrund der Allen-Schwestern weder interessant noch relevant fand.
Es riecht komisch, das bilde ich mir nicht nur ein. Und von unten kommt ein seltsames Geräusch. Ich hieve mich vom Stuhl hoch, um Nachforschungen anzustellen, und bringe kein Gähnen zustande, weil die Muskeln um meinen Mund herum zu müde dafür sind. Ich muss mich irgendwo auf den Boden legen und die Augen schließen. Ich glaube, heute habe ich einen Rekord aufgestellt: Ich kann mich nicht erinnern, irgendwann in den letzten achtzehn Monaten so müde gewesen zu sein wie jetzt. Mit etwas Glück könnte ich eine ganze Stunde weg sein, was kaum je vorkommt.
Ich spüre die Hitze, bevor ich sie sehe. Dann ist da die Farbe, intensiver, als ich sie je zuvor in meinem Haus gesehen habe, und beweglicher, es wabert und
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