Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
sie sich auf den Weg.
Yrm folgte keinem sichtbaren Pfad, sondern führte Enna mitten durch den Wald, immer weiter den Berg hinauf.
»Wo genau lebt Ihr eigentlich?«, erkundigte sich Enna. »Zurück nach Arbor könnt Ihr nun nicht mehr gehen, jetzt, da es von Erinyen besetzt ist.«
»Ich will auch nicht dorthin zurück.«
»Will nicht jeder in seine Heimat?«
»Nein, ich nicht.«
Enna sah zu ihrem Begleiter auf, dessen Gesicht sehr angespannt schien.
»Ich komme aus Westendtal«, erzählte sie voller Stolz und in der Hoffnung, doch noch ein Gespräch anregen zu können. »Habt Ihr schon davon gehört?«
»Ja«, erklang die einsilbige Antwort.
Wie kann man nur so wortkarg sein . Enna seufzte leise. Schließlich schwieg auch sie und sparte sich ihren Atem, um mit ihrem deutlich größeren Begleiter Schritt zu halten.
Immer tiefer führte er sie in die Wildnis der Berge hinein. Mehr als einmal überkam Enna das ungute Gefühl, sich möglicherweise zu unbedacht auf diesen fremden Führer eingelassen zu haben. Was wusste sie schon von Yrm, außer, dass er ein Mensch war? Die waren Halblingen in der Regel zwar nicht feindlich gesonnen, aber Enna fand es dennoch eigenartig, dass Yrm sich so gar nicht für den Grund und das Ziel ihrer Reise interessierte. Außerdem musste sie an die Menschen denken, die Bronns Truppe in die Minen verschleppt hatten. Was, wenn ihr ein ähnliches oder sogar schlimmeres Schicksal drohte?
Andererseits hätte Yrm sie letzte Nacht am Feuer ohne Weiteres töten können, wenn er das gewollt hätte. Enna versuchte, sich selbst zu beruhigen, doch das mulmige Gefühl in ihrem Magen blieb.
»Yrm?«
Der Mann drehte sich zu ihr um. Seine dunklen Augen fixierten sie, und während er sich die Wange rieb, fragte er: »Was ist?«
»Wie lange werden wir brauchen, um die Berge zu überqueren?«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und kratzte sich erneut, wobei er ärgerlich die Stirn runzelte, dann hob er die Schultern. »Wenn wir uns beeilen, werden wir heute den hohen Pass überqueren, dann einem steilen Abstieg folgen und morgen am Rande der Sümpfe entlangwandern.« Er stockte und musterte Enna eine Weile. »Was genau suchst du eigentlich in dieser Gegend?«
Enna schwieg und überlegte, was sie entgegnen sollte.
»Verstehe«, sagte Yrm da schon. »Es geht mich auch nichts an.«
»Und wo liegt Euer Ziel? Ich meine, wo wollt Ihr hin, nachdem Ihr mich über die Berge geführt habt?« Enna hoffte, durch ihre Frage einen Hinweis auf Yrms Pläne zu erhalten.
»Ich habe kein Ziel.« Abrupt wandte er sich ab. »Wie schon gesagt, ich lebe in diesen Bergen. Heute führe ich dich über den Pass, was morgen kommt, weiß ich nicht. Das ist mein Leben.«
Diese Antwort war nicht gerade zufriedenstellend für Enna, und sie überlegte schon, ob sie sich irgendwann zurückfallen lassen und im Unterholz verschwinden sollte. Doch diese Gegend war sehr unübersichtlich: Bäume und Büsche standen dicht an dicht. Immer wieder versperrten ihnen Felswände den Weg oder es taten sich schmale, aber sehr tiefe Schluchten vor ihnen auf. Mehrere Male wäre Enna beinahe umgedreht, um einen anderen Weg zu suchen, doch stets kannte Yrm einen schmalen Pfad oder Felsnischen, die sie zum Klettern nutzen konnten, oder er fand umgestürzte Bäume, über die sie gehen konnten.
Aus diesem Grund folgte sie ihm, ihrem unguten Gefühl zum Trotz, denn sie spürte, ohne Yrm würde sie nicht sicher über den Pass gelangen.
Am späten Nachmittag lichteten sich die Bäume dann allmählich, sodass immer häufiger Sonnenstrahlen durch das Blätterdach drangen. Die Luft wurde klarer, aber dünner, und auf einmal konnte Enna, wenn sie nach Südosten schaute, einen gigantischen Talkessel erkennen.
Sie blieb stehen und strich sich einige Haarsträhnen, die an ihrer Stirn klebten, zur Seite.
»Das Land hinter den Suravan-Bergen«, erklärte Yrm unnötigerweise. Auch er hatte angehalten, stellte einen Fuß auf einen Stein und stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkel.
Enna ließ den Blick schweifen und betrachtete das sagenumwobene Land, das nun vor ihr lag. Umschlossen von den Suravan-Bergen erstreckte sich der gewaltige Talkessel, so weit das Auge reichte. Irgendwo, weit im Süden, verloren sich die Berge in den Schleierwolken. Auch über dem Talkessel selbst trieben Wolken, und jene Gebiete, die nicht von ihnen verdeckt wurden, waren größtenteils mit Wald bewachsen. Unweit ihres jetzigen Standpunktes ragte aus
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