Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
Ehrfurcht erfüllt, und auch Yrm starrte wie gebannt in die Höhe.
Nur flüchtig konnte Jorim die beiden Kontrahenten am Himmel beobachten. Er sah noch, wie sich die Flügel des Drachen um den Gulvar schlangen, dann verschwanden die Giganten in den tief hängenden Wolkenschleiern. Zu gerne hätte Jorim den Drachen eingehender betrachtet, auch wenn ihm die Knie schlotterten.
»Weiter«, hörte er Bronn sagen. »Wir sind hier nicht sicher!«
»Wir sind in dieser Gegend nirgends sicher«, korrigierte Yrm.
Wie um seine Worte zu bestätigen, ertönte wieder ein Brüllen. Es kam direkt vom Himmel, und die Nebelschwaden flammten rot und gelb auf, als ob sie brennen würden.
»Los!«, zischte Yrm und erhob sich. Jorim und Bronn zögerten keinen Lidschlag lang und folgten ihm.
»Wir sind die Vanuren, Enna aus Westendtal.« Urwins Stimme klang nun verzerrt, als würde er unter Schmerzen sprechen. Dennoch schallte sie über die Lichtung, hallte wiederholt von den grauen Stämmen der Bäume wider.
»Todesschreie im Moor, Fäulnis im Schlamm, die Verderbnis in Busch und Baum«, höhnte Urwin, und aus seinem Mund quoll Blut, »all das sind wir!«
Enna riss die Augen auf, als Urwin auf sie zutrat und sie sah, dass die aufgekratzte Stelle an seinem Arm sich vergrößert hatte. Es war, als habe sich seine Haut umgestülpt, das schlammfarbene Hemd war verschwunden, und bald war jegliche Haut rohem Fleisch gewichen. Urwins Brust war offen, sie konnte bleiche Rippen erkennen und sogar sein Herz schlagen sehen. Übelkeit stieg in Enna auf, sie fiel auf die Knie und übergab sich.
Doch damit nicht genug: Überall auf der Lichtung ging der gleiche grausige Prozess vor sich. Die Luft, welche die merkwürdigen Büsche mit den blauen Blüten umgab, begann zu flirren, und aus den Sträuchern wurden Menschen. Doch rasch veränderten sie sich und nahmen andere Gestalten an. Bei vielen war es wie bei Urwin: Ihre Haut stülpte sich nach innen, rohes Fleisch nach außen. Manche mutierten zu wolfsähnlichen Kreaturen, andere glichen riesigen Bären oder Wesen, die Enna noch nie gesehen hatte. Alle jedoch hatten eines gemeinsam: offene blutige Stellen, die aussahen wie frische Wunden. Vielleicht handelte es sich um eine unvollständige Wandlung.
»Blut zu Blut, Fleisch zu Fleisch! Nähre uns, denn wir sind die Vanuren«, erklangen nun emotionslose Stimmen auf der Lichtung. Es war wie ein einschläfernder Singsang, und Ennas Mund wurde trocken. Ihr Herz raste, schlug ihr bis zum Hals.
Dann wandte sie sich ab und rannte los, doch nach wenigen Schritten versperrte ihr ein Vanure den Weg. Wie ein Bär, dessen weißes Fell blutüberströmt war, baute er sich auf seinen Hinterläufen vor ihr auf. Enna wollte in die andere Richtung fliehen, dieses Mal allerdings verstellte ihr jene groteske Figur den Weg, die eben noch Urwin gewesen war.
»Heile unsere Wunden, mach uns ganz mit deinem Blut!«, forderte er. »Nähre uns!«
Gebannt starrte Enna auf sein Herz, das heftig in seiner Brust schlug. Wie ein Mensch, dem die Haut vom Leib gerissen worden war, zuckte und wand sich die Kreatur, als würde sie Schmerzen leiden. Und sie kam näher, streckte eine Hand mit gekrümmten Fingern nach ihr aus. Doch in diesem Augenblick zischte plötzlich etwas an Ennas Ohr vorbei. Es war ein Pfeil – und dieser steckte nun in Urwins Herzen. Kurz schlug es weiter, dann wurde es langsamer und hörte schließlich ganz auf. Seine stechend blauen Augen wurden glasig, und endlich sackte der Vanure zusammen.
Chaos brach aus. Schaurig heulten und kreischten die anderen Vanuren auf, rasten auf Enna zu. Diese sah sich hektisch um, und jetzt erkannte sie, wer ihr zu Hilfe eilte: Eine schlanke Frau mit schwarzem Haar schoss einen Pfeil nach dem anderen ab, und ein hochgewachsener Mann mit einer auffallend schmalen Schwertklinge schritt geschmeidig durch die Reihen der schrecklichen Kreaturen hindurch. Enna wusste nicht, wer sie waren. Sie ähnelten Menschen, doch sie waren größer. Ihre Gesichtszüge waren feiner, und ihre Bewegungen erinnerten an Gras, das sich auch im Sturm auf sanfte Weise wiegt.
Die Frau kam nun auf sie zu, zog einen langen Dolch und warf sich zwischen Enna und einen angreifenden Vanuren. Rasch schnellte ihre Waffe nach vorn und stach ihn nieder. Ein anderer Vanure stürzte sich auf sie; er erinnerte Enna an einen Raubvogel. Er richtete sich auf, schlug mit den Flügeln; seine nach vorne schlagende Klaue wurde plötzlich länger und raste auf die
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