Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
jeder achtete sorgsam darauf, wo er hintrat. Immer wieder lagen große Findlinge herum, die vor tausend Sommern oder auch erst gestern von oben herabgestürzt sein mochten. Meist mussten sie über diese hinwegklettern oder sich an ihnen vorbeizwängen. Irgendwann zog dann eine Wolke über die tiefe Klamm hinweg, und es wurde so dämmrig, dass Jorim glaubte, die Nacht würde einbrechen. Ein schauriges Heulen hallte plötzlich durch die Schlucht, was dazu führte, dass die Halblinge wie erstarrt stehen blieben – alle bis auf Nespur.
»Was war das?«, rief Elvor. Jorim glaubte ein Zittern in seiner Stimme zu hören.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Enna leise und ihre Hand wanderte zu dem kleinen Dolch an ihrem Gürtel. Auch Toram, Tipplin und Jul hatten den Kopf in den Nacken gelegt und blickten furchtsam nach oben.
Nespur, der offenbar das Zögern der Gruppe bemerkt hatte, hielt an und wandte sich um. Sein eines Auge musterte die sechs Halblinge streng, dann schüttelte er den Kopf.
»Ihr seid wahrlich ein merkwürdiger Haufen. Mehr als die Schroffen Berge von eurer Veranda aus habt ihr wohl noch nie zu Gesicht bekommen. Darf ich vorstellen?«, er breitete die Arme aus. »Die Wolfsklamm.«
»Wolfsklamm?«, wiederholte Jul und knetete eines seiner Kräutersäckchen mit der rechten Hand. »Ich möchte jetzt nicht wissen, woher die Schlucht ihren Namen hat.«
»Das erklärt sich ja wohl von selbst«, sagte Tipplin. »Der Wind, der hier heult, hört sich an wie ein Rudel Wölfe.«
Sechs Augenpaare richteten sich fragend auf Nespur. »Gut erkannt«, bestätigte dieser, was zu einem erleichterten Aufseufzen führte. »Und jetzt weiter!«
»Selbst wenn es Wölfe gewesen wären«, meinte Elvor großspurig, »so hätten sie mich nicht daran gehindert, den Pass hinaufzusteigen!«
»Wie gut, dass du bei uns bist«, erwiderte Toram und konnte seinen ironischen Tonfall nicht verbergen.
So zogen sie weiter, immer höher hinauf in die Schroffen Berge, die die Vergessenen Täler und auch Westendtal umgaben. Kurz nachdem sie zum Höchststand der Sonne gerastet hatten, wurde der Einschnitt endlich breiter und die Felswände zu beiden Seiten niedriger. Der Pfad führte sie schließlich auf eine schmale Hochebene, die sich nach Südosten erstreckte. Die Vegetation hier war sehr karg, ein heftiger Wind strich durch hartes Gras, und vereinzelt hallten die Rufe empörter Bergdohlen durch die vielen Schluchten und Täler, die sich zu beiden Seiten der Wanderer auftaten. Nespur führte die Gruppe noch ein Stück weiter und hielt dann vor einer Felsplatte, auf der Steine zu einem etwa zwei Halblinge hohen Turm aufgeschichtet waren. »Dieser Turm markiert eine alte Wegkreuzung«, klärte Nespur sie auf. »Einst, in alten Tagen, als das Halblingsvolk noch Handel mit den Menschen trieb …«
»Handel mit den Menschen?«, unterbrach Elvor ihn erstaunt. »Das muss aber vor sehr langer Zeit gewesen sein!«
»Nein, vor sehr, sehr, sehr langer Zeit«, erwiderte Nespur. »Jedenfalls wurde dieser Turm schon damals errichtet. Auf meinen Wanderungen hab ich immer wieder Steine aufgeschichtet, um ihn zu erhalten. Später werden Jorim, Enna, Jul, Elvor und ich diesem Weg folgen«, er wies mit dem Finger rechts am Turm vorbei in Richtung Süd-Osten, »und damit die Grenze Westendtals überqueren.«
Die Grenze Westendtals überqueren , hallten die Worte in Jorims Kopf nach. Dies hatte etwas Endgültiges an sich. Dennoch empfand Jorim es nicht als erschreckend, sondern sah darin eine Herausforderung, einen Aufbruch zu neuen Ländern und Abenteuern. Er spürte ein aufregendes Kribbeln im Bauch.
»Jetzt allerdings gehen wir nach links«, verkündete Nespur, wobei er mahnend einen Finger hob. »Merkt euch diese Stelle also gut, besonders ihr: Tipplin und Toram.«
Die beiden nickten ernst, und schon marschierte Nespur los, dieses Mal jedoch zündete er sich vorher eine Pfeife an. Zur Überraschung aller summte der sonderbare Halbling noch ein Liedchen vor sich hin. Dass er dabei keinen der Töne traf, schien ihn nicht zu stören – seine Kameraden hingegen schon.
»Kannst du vielleicht aufhören zu singen«, beschwerte sich Elvor irgendwann. »Da fällt einem ja die Fußbehaarung aus.«
Nespur drehte sich um, und seine Augenbraue hob sich fast bis zum Haaransatz in die Höhe. »Nein, ich singe gerne mal, wenn ich marschiere.«
»Heb dir das doch einfach für die Erinyen auf. Damit kannst du sie sicher in die Flucht schlagen«, Elvor grinste
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