Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Sterblichen in Clairmont zu hängen – und sie hatte sich bereits mit der Familie auf Greycliff Castle angefreundet, obwohl sie den Auftrag hatte, Kenricks Freunde auszuspionieren – , hatte Haven das schlimmste Verbrechen im Kodex ihres Clans begangen. Sie hatte ihr Herz dem Feind geschenkt, und das kam einem Verrat an ihrem eigenen Volk gleich.
Sie war nun ein Schatten, zu einem Dasein verdammt, das die kriegerischen Gestaltwandler selten befiel, die von Anavrin ausgesandt wurden, um den Drachenkelch zu finden. Wurde man ein Schatten, so war man unweigerlich zum Verräter geworden.
Ihr Leben war verwirkt, wenn man sie aufspürte, nun, da ihre Treue gegenüber dem Auftrag ihres Clans durch ihre Liebe zu Kenrick gefährdet war. Die anderen Gestaltwandler würden ihren inneren Wandel sofort bemerken. Sie würden sie mit derselben wilden Entschlossenheit jagen, mit der sie auch den vermissten Steinen des mystischen Kelches nachjagten.
Haven wusste von anderen ihres Volkes, die aufgrund ihrer Gefühle für die Sterblichen an Kraft eingebüßt hatten. Einige wenige, so hieß es, lebten irgendwo auf dem Kontinent im Verborgenen; alle übrigen Abtrünnigen waren gnadenlos gejagt und schließlich getötet worden.
Da sich die Gestaltwandler Clairmont Castle immer weiter näherten, war Haven klar, dass man sie früher oder später aufspüren würde. Man würde sie töten. Und dann würden diejenigen ermordet werden, die sie liebte.
Bei Gott, diese Vorstellung konnte sie nicht ertragen.
Nicht noch einmal durfte es zu einem schrecklichen Blutbad wie dem auf Greycliff Castle kommen.
Sich auf die Seite von le Nantres zu schlagen, war ebenso unehrenhaft – und verräterisch – wie eine Verbündung mit Silas de Mortaine. Aber die anderen Möglichkeiten, die ihr blieben, waren voller Gefahren und Kummer. In ihren Gedanken war sie bei Kenrick.
Mochte der Schritt auch schwer sein, ihr Herz drängte sie, auf der Stelle zu ihm zu gehen und ihm alles zu erzählen. Sie war es ihm schuldig, auch wenn er sie dafür hassen musste.
Wie sie von den Bediensteten erfahren hatte, war Kenrick vor Kurzem erst mit einem Gast zur Burg zurückgekehrt, hatte sich aber gleich nach der Ankunft in seine Gemächer zurückgezogen. Da die Festlichkeiten erst in einigen Stunden beginnen würden, wusste Haven nicht, wie sie die Zeit bis dahin allein verbringen sollte, niedergedrückt von ihren Gedanken. Eines war sicher, sie wäre kaum in der Lage, ruhig bei Tisch zu sitzen, wenn eine so schwerwiegende Wahrheit zwischen ihr und Kenrick stand.
Wenn sie doch bei ihm sein könnte! Wenn sie nur einen kurzen Moment hätte, um zu ergründen, wie er auf die schreckliche Wahrheit reagieren würde, die wie ein bösartiges Geschwür in ihrem Bauch wütete. Sie musste etwas unternehmen, denn wenn sie noch länger das Gemach durchmaß, würde sie den Verstand verlieren.
Schließlich fasste sie einen Entschluss, verließ ihre Turmstube und eilte zu den Gemächern des Burgherrn, von einer Furcht ergriffen, die sie zu verzehren drohte.
Sie war überrascht, als sie die schwere Eichentür offen vorfand und niemanden im Zimmer sah. Kenrick musste Augenblicke zuvor noch dort gewesen sein, denn ein Feuer knisterte im Kamin, und auf einem Tisch, der zwischen zwei gepolsterten Lehnstühlen stand, erblickte sie zwei leere Kelche neben einem Weinkrug.
Und noch etwas lag dort. Ein flaches, kunstvoll getriebenes Stück Metall, das den Widerschein des Feuers einfing und Haven in seinen Bann zog, sowie sie das Turmgemach zögernden Schrittes betrat.
Es war eine Klinge, wie sie gleich nach dem ersten Schritt erkannte. Der fein geschmiedete Dolch übte eine eigenartige Anziehungskraft auf sie aus, ganz so, als sei ihr der Gegenstand vertraut. Das Feuer zauberte Lichtspiele auf den drachenförmigen Knauf und die verzierte Klinge, die aus hochwertigem anavrinischem Stahl geschmiedet war.
Das war die Klinge eines Gestaltwandlers, unversehrt und vollkommen in Form und Gestaltung, wohingegen die Klinge, die Haven auf Greycliff Castle verwundet hatte – ihre eigene Waffe, die ein Mann gegen sie gerichtet hatte, der allen Grund hatte, ihr den Tod zu wünschen – , an ihrem Schulterknochen abgebrochen war. Jetzt fragte sie sich, wie Kenrick an diese Waffe gekommen sein mochte.
Viel beunruhigender empfand sie allerdings die Frage, mit wem Kenrick über diesen Dolch gesprochen hatte.
Haven nahm die Waffe vom Tisch und betrachtete sie. In dem Augenblick, als der kühle Stahl
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