Der Kinderpapst
Augen sehen, damit
Du es mir erklärst und ich es begreife, wenigstens das â¦
Teofilo lieà den Brief sinken. Wie oft hatte er diese Zeilen
gelesen? Hundert Mal? Tausend Mal? Obwohl die Vorstellung, wie sehr Chiara
litt, ihm jedes Mal das Herz zerriss, musste er den Brief immer wieder lesen.
Der Brief war die einzige Verbindung, die es zu ihr noch gab, die einzige
Möglichkeit, ihr in irgendeiner Weise nahe zu sein. Wieder tasteten seine Augen
über die Zeilen, die sie geschrieben, das Pergament, das sie berührt hatte.
Chiara ⦠Aus jedem Buchstaben, aus jedem Wort schaute ihm ihr Gesicht entgegen,
bei jedem Wort, bei jedem Satz glaubte er ihre Stimme zu hören, diese zarte,
helle Stimme, die das Schönste gesagt hatte, was je ein Mensch zu ihm gesagt
hatte.
Ich liebe dich ⦠Ja, ich liebe dich â¦
Den Brief in der Hand, trat er an den Kamin und starrte in die
Flammen. Alles in ihm drängte danach, zu ihr zu eilen, sich ihr zu offenbaren,
ihr die Wahrheit zu sagen, was zwischen ihm und seiner Mutter geschehen war.
Aber es war unmöglich. Seine Mutter war in der Stunde seiner Geburt bereit
gewesen, ihr Leben für sein Leben hinzugeben. Jetzt hatte sie seine Liebe
verflucht, in der Stunde ihres Todes, den er ihr zugefügt hatte, durch eben
diese Liebe. Durch seine Schuld, durch seine übergroÃe Schuld hatte er das
Recht auf Glück verwirkt. Wie sollten Chiara und er da einander wiedersehen? Er
wusste doch, was passieren würde, wenn sie sich sahen, ihre Liebe würde stärker
sein als sein Wille, stärker als die Reue über das Verbrechen, das er an seiner
Mutter begangen hatte, stärker als die Angst vor dem Fluch. Niemals würde er
die Kraft haben, sich noch einmal von Chiara loszureiÃen, sie würden Opfer
ihrer Liebe werden, und wenn Chiara ein Kind empfing ⦠Im Himmel würde seine
Mutter darüber wachen, dass ihr Fluch in Erfüllung gehen würde. Das hatte sie
auf ihrem Totenbett geschworen, und in ihrem sterbenden Gesicht hatte er
Chiaras Antlitz gesehen.
War der Verzicht auf ihre Liebe das Opfer, das Gott von ihm
verlangte für seine Rückkehr zum Glauben? Teil seiner Prüfung, die mit der Zeit
des Fastens nicht geendet, sondern erst begonnen hatte?
Teofilo wusste, er hatte einen Eid abgelegt, vor Gott und dem neuen
Papst. Wann immer er vor der Wahl stehen würde, vor der Wahl zwischen der Liebe
zu Gott und der Liebe zur Welt, würde er sich für die Liebe zu Gott
entscheiden, wie groà das Opfer auch sei. Doch jetzt war die Liebe zu Chiara
selbst das Opfer, das Gott von ihm verlangte.
Wie konnte Gott ein solches Liebesopfer fordern, wenn Gott doch die
Liebe war?
Teofilo schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, bis es schmerzte.
So musste Abraham sich gefühlt haben, als Jahwe ihm befohlen hatte, seinen Sohn
Isaak zu töten. Doch anders als Abraham, der bereit gewesen war, Isaak zu
opfern, hatte Teofilo nicht die Kraft, den Stachel des Zweifels aus seinem
Herzen zu reiÃen. Auf Chiaras Liebe musste er verzichten, wollte er nicht ihr
Leben gefährden, doch die Vorstellung, dass sie ihn für sein Schweigen hasste,
war mehr, als er ertragen konnte. Er musste zu ihr, mit ihr sprechen, ihr
sagen, warum sie nicht seine Frau werden durfte! Dass es die Liebe war, die ihm
die Liebe verbot!
»Darum ruft Gott mich zu sich ⦠Damit ich im Himmel darüber wache,
dass du Seinen Willen tust ⦠Wenn du Chiara di Sasso heiratest, wird sie im Kindbett
sterben â¦Â«
Teofilo hielt sich die Ohren zu. Doch die Stimme seiner Mutter war
keine fremde Stimme, es war sein eigenes Gewissen, das mit der Stimme seiner
Mutter zu ihm sprach. Nein, er durfte seinen Eid nicht brechen, er musste das
Opfer bringen, das Gott von ihm verlangte, sonst würde Chiara für seinen Frevel
büÃen, mit ihrem Leib und vielleicht sogar mit ihrer Seele. Das war die
fürchterliche Erkenntnis, aus der es kein Entrinnen gab: Chiara und er, sie
konnten nur leben, wenn es sie füreinander nicht mehr gab, und sein Schweigen
war die Mauer, mit der er sie vor sich schützte und sich vor ihr â¦
»Sie soll dich hassen. Das ⦠ist das Opfer, das Gott von dir verlangt ⦠Damit er dich wieder anerkennt ⦠als seinen Sohn.«
Teofilo hielt den Brief vor sein Gesicht, um noch einmal Chiaras
Duft zu atmen, die allerletzte Ahnung ihrer Gegenwart. Dann hielt er das
Pergament über die Flammen, und mit
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