Der Kinderpapst
lenkt
unsere Wege.«
Chiara nickte. Ja, der Herr lenkte unsere Wege â aber warum verbarg
er dann seinen Willen vor unserer Erkenntnis? Es gab so viele Kreuzungen, so
viele Weggabelungen im Leben, an denen man sich entscheiden musste, und während
man glaubte, selber zu bestimmen, wohin man seine Schritte richtete, hatte die
Vorsehung in Wahrheit längst entschieden â¦
Plötzlich hatte Chiara eine Idee. Wenn Teofilo sich dem Schicksal
fügte und auf den Thron verzichtete, dann wollte Gott, dass sie ihm Gelegenheit
gab, ihr seine Unschuld zu beweisen. Kehrte er aber nach Rom zurück, um
abermals die Cathedra zu fordern, dann war er schuldig, und keine Macht der
Welt würde sie dazu bringen, etwas anderes zu glauben.
»Wann, meint Ihr, werden wir es wissen?«, fragte sie ihren Vater.
»Wovon redest du?«
»Davon, ob die Tuskulaner in den Bergen bleiben oder nicht.«
Nachdenklich strich er über seinen Kinnbart. »Ich denke, wenn das
neue Jahr beginnt und Damasus immer noch regiert, dürfen wir auf Frieden
hoffen. Aber schau nur«, sagte er, »was für ein Andrang!«
Tatsächlich, vor der Herberge standen so viele Menschen an wie
früher zur Zeit von Heinrichs Kaiserkrönung. Chiara beschleunigte ihre
Schritte.
»Was ist passiert?«
Kaum hatte sie das Haus betreten, kam ihr Anna entgegen. Ihr Haar
war aufgelöst, und ihr Gesicht so bleich, als wäre ihr ein Geist erschienen.
»Nicchino ⦠unser kleiner Nicchino«, stammelte sie, ohne einen Satz
hervorzubringen.
»Was ist mit ihm?« Chiara packte sie an der Schulter und schüttelte
sie. »Jetzt sag schon, was los ist!«
»Er ⦠er ist ⦠Dabei habe ich ihn nur einen Moment aus den Augen
gelassen ⦠Oh Gott!«
Chiara stieà sie beiseite und lief in die Kammer, in der das
Körbchen stand.
»Nicchino!«
Sie riss die Tür auf und trat in den Raum.
»Nicchino â¦Â«
Ihre Knie knickten ein, und sie hielt sich am Türpfosten fest.
Das Körbchen ihres Kindes war leer.
»Nicchino â¦Â«, flüsterte sie. »Wo bist du?«
Â
ZEHNTES KAPITEL: 1048â49
Strafgericht
1
»Falschmünzer!«
»Zauberer!«
»Hurenbock!«
Eine Tomate traf Teofilo am Kopf. In klebrigen Schlieren rann der
Brei an seinen Wangen herab und drang ihm in den Mund, wo er sich mit dem
Schleim eines faulen Eis vermischte, das in seinem Gesicht zerplatzt war.
Teofilo hatte sich schon zweimal übergeben, und wieder würgte er, um sich von
dem Ekel zu befreien. Doch je mehr er sich wehrte, umso schlimmer wurde es.
Zersplitterte Eierschalen gelangten in seinen Rachen, an denen er zu ersticken
glaubte.
»Warum nehmt Ihr nicht die Hände zu Hilfe, Ewige Heiligkeit?« Ein
nackter, kahl rasierter Narr sprang vor ihn hin und rasselte mit einem
Schellenkranz. »Hat Gott Euch nicht zwei Hände gegeben, um Gebrauch von ihnen
zu machen?«
Das Publikum lachte.
»Wollt Ihr Euch nicht bekreuzigen vor mir? Ich bin doch Euer
Nachfolger, Verbum incarnatum , das Fleisch gewordene
Wort! Meine Heiligkeit Papst Hokuspokus, der erste dieses Namens!«
Das Lachen wurde zum Gebrüll.
»Aber ach, was sehe ich? Ihr könnt Eure Hände ja gar nicht gebrauchen!«
Teofilo stöhnte leise auf. Er hatte sich in Albano an den Kirchpranger
ketten lassen, um sich freiwillig den Schmähungen des Volkes auszusetzen â
jener Menschen, die unter seiner Herrschaft so viele Jahre gelitten hatten.
Obwohl erst wenige Stunden vergangen waren, seit er seine BuÃe angetreten
hatte, kamen sie ihm vor wie eine Ewigkeit. Sein Gesicht war voll von Unrat und
seinem eigenen Erbrochenem während Hunderte Menschen um ihn herum johlten und
feixten und lachten und sich nicht satt sehen konnten an seinem Unglück. Mit
leise geflüsterten Gebeten versuchte er die Strafe zu ertragen, die er sich
selber auferlegt hatte. Nachdem er ohne Botschaft von Chiara geblieben war,
hatte er beschlossen, dieses Schuldbekenntnis vor der Welt abzulegen, um nach
Ablauf von drei Tagen und Nächten dem Beispiel seines Taufpaten Giovanni
Graziano zu folgen und der Welt für immer zu entfliehen.
»Der Stellvertreter Christi! Aber zu blöd, um ein paar Eierschalen
auszuspucken!« Ein halbwüchsiger Schafhirte baute sich vor ihm auf. »Soll ich
Euch zeigen, wie es geht?« Im hohen Bogen spie er Teofilo ins Gesicht.
»Nicht mal am Arsch kann er sich
Weitere Kostenlose Bücher