Der Kinderpapst
schmerzende Handgelenk. Er hatte auf die Hilfe des
Heiligen Geists vertraut, doch der hatte ihn allein gelassen. Und während er da
lag wie ein Hund, dem man einen Tritt gegeben hatte, brandete ein Applaus auf,
der lauter in seinem Kopf dröhnte als der Jubel des Volkes am Tag seiner
Thronbesteigung.
3
Giovanni Graziano flüsterte ein Ave Maria, um seine Seele gegen
die Gefahren zu wappnen, die überall in den lärmenden Gassen und StraÃen Roms
auf ihn lauerten, während er in Richtung Vatikan eilte. Wohl wissend, dass
jeder, der sich in die Welt hinausbegibt, sich unweigerlich in Sünde und Schuld
verstrickt, hatte er seit der Geburt Teofilo di Tusculos seine Einsiedelei
nicht mehr verlassen und auch nicht die Absicht gehabt, dies je wieder zu tun.
Doch was ist der Mensch, dass er Pläne macht? Am Vortag hatte ihn ein Ruf
ereilt, dem er sich nicht verschlieÃen durfte: Contessa Ermilina, die Mutter
seines Taufpaten und Schützlings, brauchte seine Hilfe, um ihren Sohn, Papst
Benedikt IX ., auf den rechten Weg zurück zu führen,
bevor dieser und sein Amt ewigen Schaden erlitten und Teofilo womöglich der
göttlichen Verdammnis anheim fiel.
Als Giovanni Graziano die von Menschen überquellende Tiberbrücke
überquerte, um auf der anderen Seite des Flusses den vatikanischen Palästen
entgegenzustreben, lobte er einmal mehr die Blödheit seiner Augen, die von den
grellen Bildern der Wirklichkeit nur graue Schemen in sein Inneres lieÃen. Doch
auch das wenige, das er sah, war schlimm genug, um sein Urteil über die Welt zu
bestätigen. Die Verhältnisse in der Stadt waren noch ärger, als er sie in
Erinnerung hatte. War Rom ihm in jener Zeit, da er in der falschen Geborgenheit
seiner reichbegüterten Familie gelebt hatte, wie ein verwahrloster Tempel
erschienen, in dem sich Sünde und Laster hatten ausbreiten können, weil der
Hausherr in Schlaf gefallen war, so schien ihm das geschändete Heiligtum nun
völlig verlassen und frechen Götzen preisgegeben, die himmlische Gerechtigkeit
und irdische Nächstenliebe gleichermaÃen verspotteten. Wie ungleich waren die
Gaben des Herrn unter den Menschen verteilt â ein Frevel, der zum Himmel schrie!
Während reiche Edelleute mit Schmuck und Pelzen protzten, um schamlos ihren
Ãberfluss zur Schau zu stellen, flehten in Lumpen gehüllte Bettler um klägliche
Almosen. Mütter mit weinenden Kindern auf den Armen, in Kleidern, die keine
zwei Eier wert waren, verkauften ihre Haarspangen und Halsbänder, um ihre Not
leidenden Bälger zu füttern. Einst stolze Handwerker und Kaufleute, die an
Wertsachen kein Stück Brot mehr bei sich trugen, dienten sich katzbuckelnd als
Lastenträger an, halbnackte Bürgertöchter boten ihre Körper um Pfennige zur
Stillung fleischlicher Begierden feil, und ein halbwüchsiger Gerbergeselle fiel
auf offener StraÃe über einen Greis her, um ihm mit braunen Händen einen
angebissenen Apfel vom Mund weg zu rauben, ohne dass zwei Soldaten des Stadtregiments,
die nur einen Steinwurf entfernt patrouillierten, sich zum Eingreifen genötigt
sahen.
Giovanni Graziano vermehrte das Tempo seiner Schritte und seinen
Eifer im Gebet. Dies alles, so war ihm durch Berichte frommer Pilger in der
Einsamkeit seines Waldes zu Ohren gekommen, sei das Ergebnis von Benedikts
Pontifikat. Seit Teofilo auf den Stuhl Petri gelangt war, litt das Volk nicht
nur unter einem geheimnisvollen Viehsterben, dessen Entstehung niemand zu erklären
vermochte, sondern mehr noch unter den immer höheren Abgaben, die im Namen des
neuen Papstes erhoben wurden. Ãberall herrschte Hungersnot, Fleisch und Milch
waren so unerschwinglich teuer, dass nicht mal schwangere Frauen in ihren Genuss
kamen, und in manchen Kirchengemeinden hatte die Armut ein so übergroÃes AusmaÃ
angenommen, dass die Priester keinen Messwein mehr hatten, um das heilige
Sakrament der Wandlung zu feiern.
Bohrende Zweifel regten sich darum in Giovanni Grazianos Brust.
Hatte er die Zeichen falsch gedeutet? War es ein Fehler gewesen, Teofilo di
Tusculo die Tiara auf sein kindliches Haupt zu setzen?
4
»Hic est enim Calix Sanguinis mei, novi et
aeterni testamenti: mysterium fidei: qui pro vobis et pro multis effundetur in
remissionem peccatorum.« In gespannter Erwartung sprach Teofilo die
Konsekrationsworte der Wandlung, die heiligsten und wirkungsmächtigsten Worte
des katholischen Glaubens, und
Weitere Kostenlose Bücher