Der Klang Deiner Gedanken
und Art Zugang zu allem möglichen Werkzeug. Jim mit zwölf, der auf dem Fahrrad hinter Helen Jamison herjagte, bis sie fiel und sich den Knöchel verstauchte. Jim mit achtzehn, der hinter Helen Jamison her war, bis sie ihm verfiel. Frank, der Allie auf den Flügel setzte und eine peinliche Situation entschärfte. Frank, der einen Kanister mit Kohlendioxid in den Ofen ihrer Blechbaracke steckte – die gewaltige Explosion, der unendliche Kohlenstaub. Frank, immer witzig, lebendig und zappelig.
Tot! Wie konnten die beiden plötzlich tot sein?
Walt trat kräftiger in die Pedale. Die Straße verschwamm vor seinen Augen. Feuchtigkeit lief seine Wangen hinunter und in die Ohren.
Nein. Er weinte nicht, oder? Walt stemmte sich gegen den Rücktritt und hielt an. Schnell wischte er sich das Gesicht ab. Das musste der Wind gewesen sein. Er hob das Fahrrad über eine Hecke, kletterte hinterher und stürmte ins Unterholz.
„Nein!“ Er rempelte einen Ast beiseite. „Nein, Herr! Wieso Frank? Wieso Jim? Sie sind Väter, verdammt noch mal! Du hättest mich hopsgehen lassen sollen. Nicht sie. Mich! Wieso? Bin ich dir nicht gut genug?“
Es war nicht der Wind. Sondern waschechte Heulsusentränen. Walt trat gegen einen Baum, sank zu Boden und fuhr sich mit dem Ärmel über die Wange.
Jetzt wollte es aus ihm heraussprudeln. Er klappte die Mappe auf und holte sein Schreibzeug heraus. Seiner Mutter konnte er nicht schreiben, sie würde sich nur Sorgen machen. Den Jungs daheim auch nicht. Er musste hart bleiben.
Nein, er würde Allie schreiben. Sie verstand ihn. Sie betete für ihn, wenn er es brauchte. Außerdem würde er sie nie wiedersehen. Und wenn sie ihn für verrückt hielt, was machte das schon?
Walt drückte so sehr auf, dass der Stift mehrmals das Papier zerriss. Er ließ die Zensur Zensur sein. Die blöden Tränen ließ er einfach laufen, genauso, wie er seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Er ließ sich nicht vom Schreiben abbringen, bis der Abend Tinte und Papier in ein einheitliches Grau tauchte.
Dann ging er auf die Knie. Er tobte, fragte nach dem Warum und trauerte. Und irgendwann, schließlich, fand er inneren Frieden. Keinen Frieden wie ein stiller Gebirgssee, sondern Frieden wie ein Strom, der über Steine sprudelt, Wasserfälle hinabrauscht und Strudel formt.
Echten, wilden Frieden.
Kapitel 26
Riverside, 25. Dezember 1942
Allies dunkelgrünes Samtkleid war von solcher Eleganz, dass nur Edelsteinschmuck dazu passte. Der Smaragdanhänger war die beste Wahl, allerdings hatte sie kein gutes Gefühl dabei, Walts Kreuz abzulegen. Sie zog die Kette auf dem Spiegeltablett gerade, das auf ihrer Kommode lag. Ihre Mutter trug nur zur Kirche ein Kreuz und bewahrte es den Rest der Woche in ihrer Schmuckschatulle auf, aber Allie hatte beschlossen, ihren Glauben – oder ihr Kreuz – nie zu verstecken.
Oben am Treppenabsatz erwartete sie der Duft von Weihnachten: Kiefernnadeln, ein Truthahn in der Bratröhre, würzige Fruchtpastetchen. Der Truthahn war zwar klein, aber dafür gab es umso mehr Gemüse. Nur auf zerlassene Butter mussten sie verzichten. Butter war knapp geworden und Allie hatte letzte Woche alles für eine Ladung Cookies zusammengekratzt, um sie Walt und Frank zu schicken. Leider nicht rechtzeitig zu Weihnachten.
Ihre Mutter ging rauschend hinter ihr die Treppe herunter. Ihr granatrotes Seidenkleid schimmerte bei jeder Bewegung. „Wollen wir nachsehen, was der Weihnachtsmann gebracht hat?“
„Ich bin dreiundzwanzig“, antwortete Allie lachend, „nicht drei.“
„Erinnere mich bloß nicht daran.“
„Wen haben wir denn da?“ Allies Vater stand am Fuß der Treppe. Sein Smoking harmonierte mit dem schwarzweißen Marmorboden. „Wenn das nicht die zwei schönsten Grazien aus Riverside sind.“
Allie stolperte und hielt sich am Geländer fest. Ihr Vater hatte ihr noch nie solche Komplimente gemacht. Über ihre Schläue, ihren Charakter, ihre Errungenschaften ja, aber nicht über ihr Aussehen.
„Danke, Liebling.“ Ihre Mutter hauchte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Ihre Stimme klang kühl. Allie in das Kompliment mit einzuschließen hatte es für sie weniger wertvoll gemacht.
Wieso war ihre Mutter so empfindlich? Jeden Tag bekam sie von ihm zu hören, wie schön sie war. Allie hatte es erst zweimal in ihrem Leben gehört, und sich nur einmal selbst auch wirklich schön gefühlt. Instinktiv ging ihre Hand zu der Kette um ihren Hals und leichte Enttäuschung machte sich in ihr breit, als
Weitere Kostenlose Bücher