Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Seans unwillige Antwort.
„Dann hilf ihr bitte. Wir wollen essen“, erklärte Ella.
Sean gab einen missmutigen Laut von sich, ging aber folgsam zur Tür und blickte hinaus. Verwundert sah er sich um. Katie war nicht da. Er ging bis an die Lücke in dem Bretterzaun, der sich direkt an ihr Haus anschloss, und sah nach hinten in den winzigen Garten. Aber auch dort war Katie nicht aufzufinden. Mit unwillig zusammengekniffenen Augen trat er zurück in die Gasse. Obwohl der Himmel über ihm noch blau war, breiteten sich zwischen den Gebäuden bereits die dunklen, alles in ein einheitliches Grau tauchenden Schatten aus.
„Katie?“, rief er und lief ein Stück weit die Gasse hinauf.
Da der Junge seine Schwester noch immer nicht finden konnte, drehte er sich besorgt um und rannte wieder zu ihrem Haus zurück. Katie wusste, dass sie nicht allein wegdurfte. Vor allem wenn es dunkel wurde, war das viel zu gefährlich!
„Katie!“, rief er noch einmal und wollte in die entgegengesetzte Richtung laufen. Dabei trat er auf etwas Hartes. Erschrocken zog er seinen Fuß zurück und beobachtete, wie ein paar Murmeln aus Katies hübschem fliederfarbenem Stoffsäckchen davonkullerten.
Sean biss die Zähne aufeinander und sah sich hektisch um, wobei er sich mehrmals um seine eigene Achse drehte. Zunehmend beunruhigt lief er zur Tür des gegenüberliegenden Hauses und hämmerte mit beiden Fäusten gegen das Holz.
Niemand öffnete ihm. Die Bewohner waren noch bei der Arbeit.
Auf seinem Weg zur nächsten Hütte kam ihm aus einem kleinen Seitenpfad ein etwa vierzehnjähriger Junge entgegen.
„He, bist du nicht der Bruder von dieser Katie?“, sprach der ihn an und ballte seine rechte Hand, als wolle er darin etwas Wertvolles vor dem anderen Jungen verstecken.
Sean atmete erleichtert auf. „Ja, das bin ich. Weißt du, wo Katie ist?“
„Das soll ich dir geben“, erwiderte der Junge und drückte Sean einen Zettel in die Hand.
Ehe er reagieren konnte, war der Bursche auf und davon. Hastig faltete Sean den Zettel auseinander und las die darauf niedergeschriebenen wenigen Worte. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Dann schrie Sean so laut den Namen seiner Schwester in die dunkle Gasse hinein, dass Ella mit dem Baby im Arm aus dem Haus gestürmt kam.
Noch ehe in der Queenstown-Reede das erste Zubringerschiff mit Post und Passagieren an Bord die Titanic erreichte, stand Richard im Speiseraum der zweiten Klasse, wo sich das noch nicht funktionstüchtige mechanische Klavier befand. Einige bereits in England oder Frankreich zugestiegene Passagiere sahen zu, wie er mit wenigen, geschickten Handgriffen die Transportkiste, die mit einem extra Zubringerboot zum Schiff gerudert worden war, ö ffnete und die Vorrichtung für das Welte-Mignon-Reproduktionsklavier herausnahm.
Ohne die vier kleinen Jungen zu beachten, die sich um ihn geschart hatten, begann er konzentriert seine Arbeit an dem bereits teilzerlegten Instrument. Er hatte es eilig, denn die Zeit, bis alle Passagiere an Bord waren, würde ihm kaum ausreichen, um den Mechanismus einzubauen, das Klavier zu stimmen und dann mit seinem bereits gepackten Koffer das letzte der zurückfahrenden Boote zu erreichen.
„Was machen Sie da?“ Einer der Burschen sprach ihn mutig an, zu Richards Verwunderung auf Deutsch.
Er bückte sich und holte den winzigen Schraubenzieher mit dem gedrehten Holzgriff aus seiner Arbeitskiste. „Ich versuche, das Instrument zum Spielen zu bringen“, murmelte er, während er sich wieder in das Klavier hineinbeugte.
„Es spielt doch, wenn man auf die Tasten drückt“, wusste der Kleine.
Richard lächelte vor sich hin. Der Junge klang mit seinem Hamburger Dialekt sehr aufgeweckt. „Dieses Klavier kann auch allein spielen – zumindest, wenn es ganz ist“, erklärte Richard und freute sich schon darauf, dies den Burschen vorzuführen.
Routiniert beendete er seine Arbeit, wischte alles, was er angefasst hatte, mit einem weichen Samttuch sauber und schloss alle Teile des Gehäuses. Schließlich legte er eine der Notenrollen ein und führte den staunenden Jungen und den weiter entfernt sitzenden Erwachsenen das selbstspielende Piano vor.
Richard nickte zufrieden und wartete, bis das Musikstück geendet hatte, ehe er sich auf den Klavierhocker setzte und das Instrument nachstimmte.
Vollkommen konzentriert und mit geschlossenen Augen saß er da und bemerkte nicht, was um ihn herum geschah.
Norah legte frische Deckchen auf die kleinen Beistelltische
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