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Der kleine Nadomir

Der kleine Nadomir

Titel: Der kleine Nadomir Kostenlos Bücher Online Lesen
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wischte die Tränen fort und stand schwankend auf. Tordo reichte ihr Chwums Lebensstab, ein kunstvoll geschnitztes Stück Holz. Olinga griff danach und presste die Lippen zusammen. Ihr Gesicht war nun zu einer Maske geworden, nur die dunklen Augen funkelten fiebrig.
    Gefasst durchschritt sie das Zelt, vor dem sich bereits der Großteil des Stammes versammelt hatte. Sie wichen vor ihr zurück, als sie den Lebensstab hochhielt, den Kopf zurückwarf und den Todesschrei ausstieß, ein durch Mark und Bein gehendes wolfsähnliches Geheul.
    Zuerst stimmten die Frauen in den Todesschrei ein, dann die Jugendlichen und Kinder und schließlich auch die Männer. Die Totenklage verbreitete sich im ganzen Lager.
    Die Schreie verstummten langsam, und es wurde unwirklich still. Nur das wehklagende Heulen des Windes, der an den Fellen der Zelte zerrte, war zu hören.
    Tordo trat neben Olinga und hielt ihr eine Holzschüssel hin. Die junge Frau kniete nieder, spreizte die Beine und rammte Chwums Lebensstab vor sich in den Boden. Danach griff sie mit beiden Händen in die Schüssel, in der sich roter Staub befand. Zum Zeichen der Trauer schmierte sie sich die Farbe ins Gesicht, die sie erst abwaschen würde, sobald Chwum bestattet war.
    Sie stand auf. Die Stammesmitglieder drängten näher. In der linken Hand hielt sie nun die Farbschüssel, in der rechten Chwums Lebensstab, den sie in die Farbe tauchte. Alle Stammesmitglieder zogen an ihr vorbei, und jeden berührte sie mit dem Lebensstab an der Stirn.
    Als sie damit fertig war, trat sie ins Zelt. Tordo und Acco folgten ihr.
    Olinga zögerte einen kurzen Augenblick, dann zog sie das Messer aus Chwums Brust und ließ es neben den Toten fallen. Sie bestäubte die Wunde mit Farbe, dann das Gesicht, den Bauch und die Oberschenkel.
    Tordo und Acco brachten Chwums reich verziertes Zeremoniengewand und kleideten den Toten an. Zwei Jäger brachten eine Bahre, auf die der Tote gelegt wurde. Schweigend verließen die Männer das Zelt und ließen Olinga mit dem Toten allein.
    Ihr Herz war schwer, als sie vor Chwum niederkauerte. Er hatte, bald nachdem sie zum Stamm gestoßen war, ihre besonderen Fähigkeiten erkannt und sie gefördert. Geduldig hatte er ihr die Pflanzen der Berge gezeigt und ihr beigebracht, wann man sie pflücken musste und wie man sie anwenden konnte. Alle Sitten und Gebräuche und die Grundlagen der Jagdmagie hatte er sie gelehrt. Immer war er freundlich und geduldig gewesen. Und nun war er tot. Eingegangen in die Unterwelt, aus der er erst erlöst werden konnte, wenn sein Name, der seine Seele war, einen neuen Träger erhielt. Der erste neugeborene Knabe des Stammes würde seinen Namen erhalten, und dadurch konnte er der Unterwelt entfliehen. So wollte es der Brauch des Stammes.
    Einige Zeit später traten wieder Tordo und Acco ins Zelt. Olinga stand auf und hüllte Chwum in kostbare Pelze. Die Männer trugen die Bahre ins Freie und stellten sie auf den Boden.
    Olinga stimmte den Totengesang an, in den der Stamm einfiel. Während sie sang, ging sie im Kreis um den Toten herum und ließ bei jedem Schritt einen schwarzglänzenden Stein fallen. Als der Kreis geschlossen war, trat sie heraus, und der Gesang verstummte.
    Damit war der erste Teil der Trauerfeierlichkeiten abgeschlossen, der zweite Teil würde erst im Winterlager erfolgen.
    Die Stammesmitglieder zogen sich in ihre Unterkünfte zurück. Schließlich war sie allein. Der Stamm durfte schlafen, doch sie würde über die Ruhe des Toten wachen.
    Im Lager wurde es still. Nur gelegentlich schreckte einer der Hunde auf und stieß ein klagendes Winseln aus.
    Sadagar wurde von Alpträumen gequält. Stöhnend wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Immer wieder erwachte er, richtete sich auf und lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge Nottrs und Selamys.
    Sein Gesicht brannte, und die Wunden schmerzten noch immer, obzwar er sie mit seinen Heilkräutern behandelt hatte. Sein ganzer Körper war mit blauen Flecken bedeckt, und alle Knochen taten ihm weh.
    Vorsichtig setzte er sich auf und unterdrückte mühsam ein Stöhnen. Als er aus seiner Bewusstlosigkeit aufgewacht war, hatte ihn Selamy mit Fragen bestürmt. Die Geschichte vom Kleinen Nadomir hatte der Schmied nicht geglaubt, wie er ihm auch nicht glaubte, dass er an Chwums Tod unschuldig war. Chwum war tot, und Olinga gab ihm die Schuld - so standen die Dinge. Lange hatte er sich mit Selamy über einen Fluchtversuch unterhalten, der aber ziemlich hoffnungslos war.

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