Der kleine Nadomir
Tunnel waren merkwürdig verzerrt und pflanzten sich wie geheimnisvolle Echos fort. Die flackernden Fackeln spendeten nur wenig Licht. Es schien Sadagar, als sei er in einem Alptraum gefangen und wandere durch endlose Gänge, die ins Nichts führten. Sein Herz schlug schneller. Da war die unbestimmte Angst, sich tief unter gewaltigen Steinmassen zu befinden und erdrückt zu werden.
Langsam wurde es heller. Sadagar atmete erleichtert auf; der Marsch durch den Tunnel war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Aber nicht nur er war erleichtert. Die Freude, dem Tunnel entronnen zu sein, spiegelte sich auf allen Gesichtern. Auch die Hunde bellten ihre Freude heraus.
Die Chereber nützten das Tageslicht. Die Fahrt ging weiter, das Tal stieg sanft an. Als es dunkel wurde, hielten sie an und errichteten das Lager im Windschatten einiger hoher Steine.
Sie befestigten Stangen an den Schlitten, die mit Schnüren verbunden wurden, über die sie Felle warfen. So entstanden verschieden große Zelte. Darin stampften sie den Schnee fest und legten dicke Pelze auf den Boden. Überall brannten Feuer in der zunehmenden Dämmerung.
Sadagar, Selamy und Nottr bekamen eines der kleineren Zelte zugewiesen. Licht spendete eine flache Talglampe aus Speckstein mit einem Moosdocht.
»Was hat Olinga von dir gewollt, Nottr?« erkundigte sich Sadagar.
»Olinga?«
»Die Frau, die mit dir sprach«, sagte Sadagar ungeduldig.
»Ich verstand sie nicht.« »Gefällt sie dir?«
Nottr blickte ihn verständnislos an.
»Findest du sie hübsch?«
»Ich weiß nicht.«
»Weckt ihr Anblick bei dir irgendwelche Gefühle, Nottr?«
»Sie scheint kräftig zu sein.«
Sadagar seufzte und wechselte mit Selamy einen Blick. »Sonst fällt dir zu Olinga nichts ein?«
Nottr überlegte kurz, dann lächelte er. »Ihr Umhang ist hübsch. So einen hätte ich auch gern.«
»Ihr Umhang ist hübsch«, stöhnte Selamy gequält auf. »Es ist hoffnungslos, Sadagar, dein Freund ist zu einem geschlechtslosen Wesen geworden.«
Sadagar dachte angestrengt nach. Früher, als er noch mit der Runenkundigen Fahrna durch die Lande gezogen war, hatte er gute Geschäfte mit seinen erfundenen Prophezeiungen gemacht. Und er hatte auch manchem Mann, der die ehelichen Pflichten nicht mehr zur Freude seiner Frau erfüllen konnte, ein Mittelchen zur Steigerung der Manneskraft verkauft, das aber völlig nutzlos war. Doch gelegentlich hatte es dank der Kraft des Wunschgedankens auch geholfen. Aber bei Nottr lagen die Dinge ganz anders. Er hatte ein Mittel bei sich, das möglicherweise Nottr anregen würde, aber nur ein paar Tropfen zu viel, und Nottr würde zum Stier werden. Bei Thonensen hatte er einen Zauberspruch gelesen, der dieses Problem lösen konnte, doch er hatte sich den Spruch nur unvollständig gemerkt.
»Adagar!« riss ihn Olingas Stimme aus seinen Gedanken. »Komm heraus, Adagar!«
Brummend stand er auf und trat ins Freie. Es war nun dunkel geworden. Ein sternenloser Himmel spannte sich über die Ebene. Um die Feuer saßen die Jäger und brieten Fleisch auf langen Spießen.
»Komm mit zu Chwum, Adagar!«
Gehorsam folgte er der jungen Frau, die über ihrem Fellgewand einen Umhang trug, der mit Raubvogelfedern geschmückt war. Sie führte ihn zu einem Zelt am Ende des Lagers.
»Chwum ist noch immer wie tot«, sagte sie. »Aber sein Zustand scheint sich gebessert zu haben. Seine Wangen sind nicht mehr so bleich.«
Das Zelt wurde von zwei Talglampen erleuchtet. Sadagar beugte sich über den Schlafenden, konnte aber keine Besserung feststellen.
»Lass mich allein, Olinga! Ich werde nun einen starken Zauber anwenden, bei dem ich völlige Ruhe brauche.«
Die Frau zögerte, dann huschte sie geräuschlos aus dem Zelt.
Sadagar setzte sich schnaufend nieder und starrte den Greis missmutig an. In seinem Kräutersack hatte er ein Mittel, das den Alten für kurze Zeit aufwecken würde. Aber seinen Tod konnte er nicht verhindern.
Er öffnete den Beutel, feuchtete seinen rechten Zeigefinger an und drückte ihn in ein türkisfarbenes Pulver. Er beugte sich über Chwum, öffnete dessen Lippen und strich das Pulver auf seine Zunge. Der Alte röchelte und schluckte.
Bedächtig steckte er den Beutel ein und begann sinnlose Worte zu murmeln. Es war ein Singsang, der nur für Olinga bestimmt war, die sicherlich vor dem Zelt lauschte. Immer wieder rief er den Kleinen Nadomir an.
Es dauerte nicht lange, und Chwum bewegte sich. Seine Nasenflügel bebten, und seine Lider zuckten. Er
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