Der kleine Nadomir
Die Jäger hätten die Hunde auf sie gehetzt, und vor den scharfen Zähnen dieser Bestien hatten er und Selamy Angst. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als abzuwarten und auf ein Wunder zu hoffen.
»Der Kleine Nadomir wird uns helfen«, flüsterte Sadagar vor sich hin. Er kroch zum Zelteingang hin und hob das Fell ein Stück hoch. Im Lager war es noch immer ruhig. Es wurde langsam hell. Im diffusen Licht sah er die Bahre mit dem Toten, um die Olinga noch immer im Kreis ging.
Und dann erinnerte er sich an Mythor, und ihm fiel ein, dass heute der entscheidende Tag war. Der Tag der Wintersonnenwende war angebrochen. In wenigen Stunden, bei Sonnenaufgang, würde es zur Schlacht kommen, die über das Schicksal der Welt entscheiden sollte.
Das Schicksal der Welt kümmerte Sadagar aber herzlich wenig. An seinem eigenen lag ihm im Augenblick viel mehr. Und so, wie es aussah, würde es der letzte Tag seines Lebens werden.
Als ein Jäger eines der Zelte verließ, ließ er rasch das Fell fallen und kroch zurück auf sein Lager. Sein Magen knurrte. Die Wilden hatten ihnen nichts zu essen gegeben. Aber der Hunger war sein geringstes Problem.
Als es im Lager lauter wurde, erwachte Duprel Selamy und setzte sich laut gähnend auf.
»Einen schönen guten Morgen«, sagte Sadagar.
»Vermutlich ist es der letzte, den wir erleben«, brummte der Schmied, stand auf und streckte sich.
Nun wachte auch Nottr auf, doch Sadagar und Selamy beachteten den Barbaren nicht.
»Weshalb sollten sie dir etwas tun, Duprel?«
»Ich fürchte, dass sie mich für Chwums Krankheit verantwortlich machen werden. Der Alte war zwar schon krank, als sie mich gefangen nahmen. Aber das haben sie vermutlich bereits vergessen. Wir drei sind Fremde, die Unglück über den Stamm gebracht haben. Das wird sie in Zukunft nur noch in ihrem Misstrauen allen Fremdartigen gegenüber bestärken.«
»Und was ist mit Nottr?«
Duprel hob die Schultern. »Er gehört zu dir, deshalb ist auch sein Leben verwirkt. Ich bin nur neugierig, wie sie uns töten werden.«
»Du siehst dem Tod gelassen ins Auge, mein Freund.«
»Hilft es etwas, wenn ich jetzt zu wehklagen beginne? Irgendwann müssen alle sterben. Und ich kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken, das ich sehr genossen habe. Mir tut es nur leid, dass ich nie mehr meine Schmiede sehen werde, nie mehr Metall bearbeiten darf. Aber glaube mir, mein Freund, ich werde lächelnd sterben.«
»Ich stimme mit deinen Ansichten überhaupt nicht überein, Duprel. Schon oft sah ich dem Tod ins Auge. Oft schien es, als sei ich verloren, doch immer fand ich eine Möglichkeit, dem Tod zu entkommen. Warum sollte es mir nicht auch diesmal gelingen?«
»Das Leben des Menschen ist vorbestimmt. Die Götter lenken die Wege, die Götter entscheiden, ob man leben oder sterben soll.«
Sadagar schüttelte entschieden den Kopf. »Die Götter hätten viel zu tun, wenn sie jeden von uns beobachten wollten. Glaube mir, mein Freund, der Mensch ist in seinen Entscheidungen frei. Er ist dafür verantwortlich, was er tut. Rede dich nicht auf die Götter hinaus.«
»Du bist ein gottloser Mensch, Sadagar.«
»Diese Feststellung, Duprel, habe ich mir schon oft selbst als Frage gestellt. Ich war in vielen Ländern und habe vieles gesehen. Überall gibt es Götter, die alle verschieden sind. An welche Götter soll ich nun glauben, Duprel?«
»Ich glaube an Erain, den Gott, der beweist, dass auch im Bösen das Gute steckt.«
»Ich will dir deinen Glauben nicht nehmen, mein Freund«, sagte Sadagar leise, »ich freue mich für dich, dass du noch glauben kannst.«
Nottr hatte der Unterhaltung verständnislos gelauscht, jetzt war er ungeduldig geworden. Er war hungrig. »Wann gibt es etwas zu essen?« fragte er ungeduldig.
»Sieh dir den Barbaren an, sein Gott wohnt in seinem Magen«, sagte Sadagar kichernd. Doch er wurde sofort wieder ernst. »Ich fürchte, Nottr, dass uns deine Artgenossen nichts Essbares anbieten werden.«
»Ich habe Hunger, großen Hunger«, knurrte der Barbar und stapfte auf den Zelteingang zu.
Bevor ihn Sadagar zurückhalten konnte, war der Lorvaner schon im Freien. Aber er kam nicht weit. Drei Jäger stellten sich ihm entgegen, die drohend ihre Lanzen auf seine Brust richteten.
»Geh zurück ins Zelt!«
Nottr stieß ein tief aus der Kehle kommendes Brummen aus. Er hatte Hunger, und nur das Bedürfnis nach Nahrung ließ ihn handeln. Blitzschnell duckte er sich, warf sich zur Seite, rammte seine geballte rechte Faust dem
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