Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
Ansonsten war der Keller das Reich der Ratten und Spinnen, weswegen sich niemand sonderlich darum riss, ihn aufzusuchen. Aber neuerdings verwahrte Rupert hier offenbar auch seine Lehrlinge.
»Annot?«, fragte Jonah, doch eigentlich wusste er es schon.
»Sie ist fort.« Es klang erstickt, und ihm ging auf, dass Crispin weinte. »Ich weiß nicht, wohin«, fuhr der Junge fort. »Sie ist noch letzte Nacht verschwunden. Keine Ahnung, ob Master Rupert und deine Großmutter sie einfach vor die Tür gesetzt haben, keiner hat mir was gesagt. Als ich vorschlug, nach ihr zu suchen, hat er mir eins verpasst, dass ich dachte, er reißt mir den Kopf ab, und mir geraten, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er hatte dich hier runtergeschafft, vermutlich damit Annot dich nicht finden kann. Und als du anfingst aufzuwachen, haben sie dir irgendein Zeug eingeflößt. Mit einem Pulver, das deine Großmutter hatte. Heute Abend beim Essen hat der Meister gesagt, ich soll bei dir bleiben und dich nach oben bringen, wenn du aufwachst.«
Eine ganze Nacht und ein ganzer Tag waren also vergangen. Eine Nacht und einen Tag seines Lebens hatten sie ihm gestohlen. Mit verblüffender Plötzlichkeit machte seine Blase sich bemerkbar. Sie fühlte sich an, als wolle sie bersten.
»Hilf mir hoch.«
Crispin stand vom Boden auf und streckte ihm die Hand entgegen. Jonah nahm sie und kam unsicher auf die Füße. Sie sahen sich einen Moment an. Crispins Augen waren kummervoll und unruhig.
»Jonah, was tun wir denn jetzt?«
»Ich gehe pinkeln.« Auf wackeligen Beinen stieg er die zwei Stufen hinauf, öffnete die Falltür und stemmte sich hoch, bis er auf dem Dielenboden im Lager saß. Er fühlte sich grässlich. Sein Kopf hämmerte. Beinah torkelte er auf dem Weg in den Hof hinaus.
Er ging nicht zu Crispin in den Laden zurück, sondern betrat das Haus und stieg langsam die Treppe hinauf. In der Halle war alles finster. Sicher war es schon spät. Trotzdem ging er weiter zur Kammer seiner Großmutter und trat ein, ohne anzuklopfen.
Cecilia saß in ihrem Sessel, als habe sie auf ihn gewartet. Unbewegt blickte sie ihm entgegen, schwieg seelenruhig, bis er die Tür geschlossen hatte und mit verschränkten Armen vor ihr stand. Erst dann sagte sie: »Ich bedaure, wenn ich dir Unwohlseinverursacht habe, mein Junge. Du siehst alles andere als gut aus. Wenn du klug bist, legst du dich schlafen, du leidest an den Folgen eines Rausches.« Als sie feststellte, dass sie keine Antwort bekam, änderte sie die Strategie. Ihre Stimme wurde schneidend. »Ich hoffe, du bist nicht gekommen, um mir eine tränenreiche Szene zu machen.«
»Nein.«
»Liebst du dieses Mädchen?«, fragte sie ungläubig.
»Ich glaube nicht.«
»Warum in aller Welt wolltest du dann etwas so Törichtes tun? Welcher Teufel hat dich nur geritten? Du hast eine große Zukunft vor dir, Jonah. Ich bin sicher. Aber nicht, wenn du einen so folgenschweren Fehler machst.«
Er hob das Kinn. »Wo ist sie?«
Die alte Dame unterdrückte ein Hüsteln und hob gleichgültig die mageren Schultern. »Das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Ich werde sie suchen.«
»Bitte. Tu dir keinen Zwang an. Nach vierundzwanzig Stunden wirst du sie niemals finden. Nicht in dieser Stadt.«
Er ging zur Tür, konzentrierte sich darauf, nicht zu schwanken, und sagte über die Schulter: »Ihr solltet mir Glück wünschen, Madam Großmutter.«
Die alte Dame lachte leise. »Du willst mir drohen? Die Mühe kannst du dir sparen. Seit zwei Monaten huste ich Blut, Jonah. Keine irdische Rache kann mich mehr erreichen.«
Nur ein fast unmerkliches Blinzeln verriet seinen Schrecken ob dieser Eröffnung; seine Miene blieb unverändert ausdruckslos, der Blick der beinah schwarzen Augen feindselig. Sie bewunderte seine Haltung. Sie war ungewöhnlich für einen so jungen Mann.
»Es ist verwunderlich, dass Ihr so große Schuld auf Euch geladen habt, wenn Ihr schon so bald vor Euren Schöpfer tretet«, bemerkte er. »Unklug, denkt Ihr nicht?«
Cecilia winkte seufzend ab. »Es ist keine Sünde, seinen Enkel vor den Folgen seines jugendlichen Leichtsinns zu bewahren.«
»Leichtsinn? Ein einziges Mal wollte ich etwas tun, das irgendeinen Wert hat, und Ihr nennt es Leichtsinn ?«
»Ja!«, fuhr sie ihn an. »Nur weil dieses Schaf an dein Mitgefühl appelliert hat, wolltest du bedenkenlos deine Zukunft aufs Spiel setzen. Du warst im Begriff, eine wirklich große Dummheit zu begehen, und irgendwer musste dich daran
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