Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
scheiterst? Er hatte wirklich keine Ahnung. Und er sah auch keinen Sinn darin, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er hatte erreicht, was er wollte, nur das zählte. Er saß hier ohne Licht und ohne Möbel und obendrein hungrig in dieser staubigen Vorratskammer, aber das Haus war seines. Er besaß genug Kapital, um es einzurichten und um ein Kontingent erstklassiger Ware anzuschaffen. Morgen würde er zu Master Holt gehen, einem der Schneider, die bislang immer bei Rupert gekauft hatten, und ihn als ersten Kunden werben, indemer eine neue Garderobe bei ihm in Auftrag gab. Und wenn er gute Geschäfte machte, würde er sich ein Pferd kaufen und vernünftig reiten lernen. Vielleicht würde er eines Tages gar ein Schiff besitzen und regelmäßigen Handel mit den Hansestädten treiben. Er konnte alles tun, was er wollte. Er war frei.
Er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er nicht nur frei, sondern auch mutterseelenallein war. Aber er gedachte nicht, sich deswegen auf diesen staubigen, harten Holzdielen in den Schlaf zu heulen. Alleinsein fiel ihm nicht schwer und war ihm auch nicht fremd. Er war gerade zu der befriedigenden Erkenntnis gekommen, dass er sich nicht fürchtete, als ein Geräusch ihn aufschrecken ließ.
Jonah hob den Kopf und lauschte.
Da war es wieder. Ein Scharren, ein verstohlenes Rascheln im Hof.
Sein Atem beschleunigte sich. Dort draußen war jemand. Rupert war ihm gefolgt. Oder hatte ihm einen neuerlichen Mordbuben auf den Hals gehetzt.
Jetzt war es wieder still. Jonah rührte sich nicht. Die Stille erschien ihm trügerisch, und die Dunkelheit war eine Verräterin.
Das Knarren der Eingangstür war nur ein Flüstern, ging beinah unter im leisen Rauschen des Windes und den Nachtgeräuschen der großen Stadt. Aber Jonah hatte es deutlich gehört. Jemand hatte sich ins Haus geschlichen.
Das Herz hämmerte in seiner Brust, und jetzt fürchtete er sich in der Tat, sah sich gehetzt nach einem Fluchtweg um. Aber er saß in der Falle. Die Kammer hatte keine zweite Tür, und das Fenster war zu schmal, um hindurchzuklettern.
Lautlos stand er auf und zückte seinen Dolch.
»Wer ist da?« Er versuchte, seiner Stimme Entschlossenheit zu verleihen, doch er hörte selbst, wie brüchig sie klang.
»Na los, gib dich zu erkennen«, verlangte er wütend.
Ein scheues Maunzen ließ ihn zusammenzucken. Dann sah er ein bernsteinfarbenes Augenpaar in der Dunkelheit aufblitzen.
Sein Lachen war ein erleichtertes Zischen. Er hockte sich wieder auf den Boden, legte das Messer beiseite und streckte die Hand aus. »Komm her, du Streuner. Nur die Ruhe. Ich tu dir nichts.«
Ein helles Schnurren erhob sich und wurde lauter, als die Samtpfoten näher kamen. Jonah spürte weiches Fell unter der ausgestreckten Rechten. Er ertastete einen kleinen, weichen Katzenkopf, fuhr behutsam über die Ohren und lachte wieder. Seine Erleichterung machte ihn beinah schwindelig.
»Gut, dass du gekommen bist. Mir war ein bisschen einsam zumute.«
Er wachte auf, als das erste zartrosa Tageslicht durchs Fenster fiel, und stellte fest, dass sein vierbeiniger Hausgenosse ein sehr junger rot getigerter Kater war. Das Tier war bis auf die Knochen abgemagert und fuhr fauchend aus dem Schlaf, als Jonahs Bewegungen es weckten.
»Schsch. Kein Grund, gleich das Weite zu suchen.«
Seine Stimme schien den Kater zu beruhigen. Er schnurrte zaghaft, kam wieder näher und machte einen Buckel. Jonah kraulte ihn einen Moment und stand dann auf, um für sie beide ein Frühstück zu besorgen. Je eher er den Tag begann, desto besser. Er hatte hundert verschiedene Dinge zu tun.
Die Ropery war ein Viertel gleich am Fluss, das vor langer Zeit einmal die Seiler bewohnt hatten, von denen auch der Name kam. Die Seiler waren jedoch längst in andere Stadtteile abgewandert; wohlhabende oder auch steinreiche Kaufleute hatten die begehrten Grundstücke erworben und unterhielten ihre eigenen Anlegestellen zum Be- und Entladen der Schiffe, die ihre Waren transportierten. Auch Jonahs lang gezogenes Grundstück wurde an der Südseite von der Themse begrenzt, aber eine hohe Mauer versperrte den Blick und Zugang zum Fluss. Seine eigene Anlegestelle, sollte es sie je geben, lag noch in ferner Zukunft. Stand man mit dem Rücken zur Flussmauer, lag rechter Hand ein eingeschossiges Lagerhaus mit Kontor, links das zweigeschossige Wohnhaus und gegenüber die Mauermit dem breiten zweiflügeligen Tor zur Straße, die der Einfachheit halber ebenfalls Ropery hieß.
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