Der König und die Totenleserin3
Verstand wieder einsetzte und sie anfing, auch andere Dinge wahrzunehmen. So zum Beispiel, dass ihr Retter der Gastwirt des »Pilgrim Inn« war.
Godwyn. Der Gute.
Das erforderte einiges Umdenken. Seit einem Tag oder noch länger hatte der Mann in ihrem Kopf die Rolle des Fleisch gewordenen Bösen gespielt.
Hilda machte noch immer Schwierigkeiten. Die Brüder Titus und James murmelten Gebete vor sich hin, um die Flüche abzuwehren, die sie ihnen entgegenschleuderte, während sie sich gezwungen sahen, ihr einen Strick um die Taille zu schlingen, den sie dann an einem Haken in der Wand festbanden, damit sie nicht auf ihren Mann losgehen konnte. Die Kappe war ihr vom Kopf gerutscht, und die Haare standen ihr zu Berge, sodass sie aussah wie ein rötlich grauer Dachs. Speichelfäden tropften von ihren gebleckten Zähnen.
Der Abt schüttelte den Kopf und betrachtete sie ehrlich bekümmert. »Ich fürchte, sie ist verrückt geworden, die arme Seele.«
»Ein Leiden, das viele Frauen in einem gewissen Alter befällt, wie ich höre«, sagte Bruder Aelwyn, woraufhin sein Abt nickte.
Godwyn stand händeringend vor seiner Frau. »Ich hab’s nich gekonnt, Schatz, ich hab’s nich gekonnt. Um meiner Seele willen konnte ich das nicht zulassen. Das durftest du den beiden nicht antun, wo einer auch noch Bischof ist. Und auch nicht den anderen.«
Hilda spuckte ihn an.
»Anderen?«, fragte der Abt scharf.
»Neiiiiin!« Hilda warf sich nach vorne und wurde von dem Strick zurückgerissen. »Verräter, Verräter, Verräter!«
Andere?
Andere?
Wieder erinnerte sich Adelia fast verwundert, dass sie und Rowley auf der Suche nach Leichen in diesen Tunnel gegangen waren und keine gefunden hatten. Die tiefe Trauer um Emma und ihr Kind wurde von einer verzweifelten Hoffnung verdrängt. »Leben sie noch? Wo sind sie?«
»Geht es um die Lady, die verschwunden ist?« Der Abt war verwirrt.
»Wisst Ihr, ich konnt’s nich ertragen, dass die anderen sterben sollten – dann hätte sie Mord auf ihre Seele geladen. Und es war auch noch ein Kindchen dabei«, sagte Godwyn. »Aber ich konnte sie auch nich freilassen, weil sie sie dann verraten hätten. Das konnte ich doch nich machen, oder? Und das jetzt is nur, weil sie nich aufgehört hat.« Er wandte sich wieder seiner Frau zu. »Du hast nich aufgehört, Schatz. Der Bischof, die Lady hier … einmal musste doch Schluss sein, oder?« Tränen strömten ihm übers Gesicht.
»Wo sind sie?«
»Lazarus Island.«
»Lazarus?« Der Abt herrschte ihn an. »Du hältst drei Menschen seit über einem Monat auf Lazarus fest? Unmöglich, das hätten mir die Aussätzigen erzählt.«
Godwyn ließ den Kopf hängen. »Ich hab denen gesagt, ich würde Euch nich mehr rüberbringen, wenn sie irgendwas verraten. Ich schäm mich, Herr, aber ich wollte nur, dass sich alles ein bisschen beruhigt, dass Hilda wieder zu Sinnen kommt.« Wieder sah er seine Frau an. »Aber das bist du nich, Schatz, es wurde immer schlimmer mit dir.«
Abt Sigward schüttelte den Kopf und setzte sich.
»Die anderen waren ziemlich schlecht dran«, fuhr Godwyn fort, »wo sie doch so lange unten im Tunnel gewesen sind. Ganz schlecht ist es ihnen gegangen, dem großen Kerl und dem kleinen Jungen besonders, und die Frau hat sich auf alles eingelassen, damit sie am Leben bleiben. Ich hab gewartet, bis die Missus mal weg war, und dann hab ich sie rausgelassen. Ich hab ihnen gesagt, sie müssten machen, was ich sage, wenn sie am Leben bleiben wollen. Und dann hab ich sie rüber nach Lazarus gerudert.« Seine Schultern sanken herab. »Is jetzt sowieso vorbei. Ich konnte das doch nich noch mal zulassen, oder? Sie hat einfach nich aufgehört.«
Hilda spuckte ihn wieder an.
»Es is vorbei, Schatz«, sagte Godwyn erneut flehentlich zu ihr. Und dann zum Abt: »Die lassen sie doch laufen, nich, Herr? Weil sie verrückt is, lassen sie sie laufen. Sagt denen das. Es war alles nur für Euch. Alles, was sie gemacht hat, war immer nur für Euch.«
»Für mich?« Sigward starrte ihn an.
»Sagt uns einfach, ob sie noch leben!«, beschwor Adelia ihn. Es war keine Zeit für Nebensächlichkeiten. »Leben sie noch?«
»Ich hab nich gewusst, was ich sonst machen soll«, sagte Godwyn an den Abt gewandt. Er deutete mit dem Kinn auf seine Frau. »Die hätten sie sonst verraten. Immer, wenn ich konnte, hab ich heimlich was zu essen nach Lazarus gebracht.« Er sank noch mehr in sich zusammen. »Jetzt is es vorbei, so oder so. Gott sei uns beiden
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