Der König und die Totenleserin3
das ihr endlos vorkam. Alf hatte die Leichen nebeneinandergelegt, alle mit dem Gesicht nach oben, die Hände über der Brust gefaltet. Sie waren noch nicht stark verwest, aber Insekten und Tiere hatten sich ihren Teil geholt und die Gesichter in unkenntliche Grimassen verwandelt, die kreischenden Klagen gleich zu Adelia hochstarrten und das Brüllen und Heulen erahnen ließen, das den Kampf mit Wolf und seinen Räubern begleitet hatte, auf der Straße, die das Letzte war, was sie im Leben gesehen hatten.
Pater Septimus, die zernagten Hände auf dem Holzkreuz, das um seinen Hals hing.
Emmas zwei Reitknechte, die immer so nett zu Allie gewesen waren; zu ihrem Entsetzen konnte Adelia sich in diesem Moment nicht mehr an ihre Namen erinnern. Beide waren bis auf die Kniehosen entkleidet, ihre ledernen Jacken zu kostbar, um sie einfach verfaulen zu lassen. Unmöglich, jetzt noch sagen zu können, wer wer war.
Master Roetgers Knappe Alberic, weit weg von seiner schwäbischen Heimat. Auch ihm hatte man die Jacke ausgezogen, und in seinem aufgerissenen Brustkorb waren die bloßen Knochen zu erkennen.
Adelia blieb einen Moment stehen; es war ihr unmöglich weiterzugehen. Will versetzte ihr einen sanften Stoß. »Wir haben nich die ganze Nacht, Missus.«
Sie näherte sich den Frauen – oh Gott, die Frauen. Die mit dem hellen Haar musste Alys sein, Emmas Dienerin. Sie war nackt. Bei dem Gedanken daran, was man mit dem Mädchen gemacht haben könnte, ehe es starb, schloss Adelia fest die Augen.
»Weiter, Missus!«
Neben Alys lag Mary, die bejahrte Amme des kleinen Pippy, und ihr halb abgenagtes Gesicht ließ nichts mehr von der Geduld und Güte erkennen, die sie im Leben besessen hatte. Auch ihr Leichnam war nackt.
»Hat er sie vergewaltigt?« Adelia zwang sich, mit leiser und fester Stimme zu reden.
Niemand antwortete ihr – auch eine Antwort.
Sie machte einen weiteren widerstrebenden Schritt. Die Laterne beleuchtete zunächst einen Absatz in der Erde, wie eine Stufe, und danach die Zweige und Pflänzchen, die den Waldboden bedeckte. Sie hatte das Ende des Grabes erreicht.
Sie drehte sich zu Will um. »Sind das alle?«
Er nickte.
»Aber das sind nur sechs.« Ihre Stimme gellte erschreckend laut durch die Stille, und sie senkte sie. »Sie waren zu neunt. Wo ist Emma? Wo ist ihr Kind? Wo ist ihr Ritter?« Sie ließ Laterne und Schwert fallen, packte die Tunika des Mannes und schüttelte ihn. »Dieser Teufel, was hat er mit ihnen gemacht?«
Die Männer um sie herum atmeten erleichtert aus. »Wir hatten’s gehofft«, sagte Alf.
Sie fuhr herum und sah ihn. »Was gehofft?«
»Dass Eure Freundin vielleicht davongekommen is. Aber sie hätte auch hier bei den Toten sein können. Wussten wir ja nich.«
»Davongekommen? Emma ist davongekommen?«
»Das war nämlich so.« Will bugsierte sie zu einem umgestürzten Baumstamm, auf den sie sich setzte, hob ihr Schwert auf und gab es ihr zurück, wie eine Mutter, die einem Kleinkind ein Spielzeug in die Hand drückt, um es zu beruhigen. Er hockte sich neben sie, während Alf anfing, wieder Erde über die Leichen zu schaufeln. »Wolf erzählt, dass ein großer Bursche bei ihnen war, und der hatte einen Fuß in so ’ner Art Korb.«
»Jawohl, Korb«, echote Alf und unterbrach seine Schaufelei.
»Roetger.« Adelia konnte kaum die Lippen bewegen.
»War der ein Fremder?«, fragte Will interessiert.
Mühsam brachte sie heraus: »Ein Ritter, Emmas Kämpe. Deutscher.«
»Was is ein Deutscher?«, fragte Alf.
»Beeil du dich lieber mit dem Einbuddeln von den armen Teufeln da, Alf!«, wies Will ihn an. »Wir wollen hier weg, ehe wir auch noch da drin landen.« Er wandte sich wieder Adelia zu. »Kämpe, ja? Hat anscheinend auch so gekämpft. Hat Wolfs Männer hinten vom Trosswagen weggehalten, einen von ihnen am Auge erwischt, ’nem anderen die Hand abgehackt und noch einem einen Stich verpasst.«
»Vier Leute hat er in der Nacht verloren, sagt Wolf«, warf Alf ein, der seine Arbeit erneut unterbrach. »War nicht besonders froh darüber.«
»Aber Emma, was ist aus Emma und ihrem kleinen Jungen geworden?«
»Die hatten ein Kind dabei?«, fragte Will. »Wolf sagt, er meinte, er hätte ein Kind weinen gehört. Das wär dann also geklärt, weil sie wie verrückt gekämpft hat. Das ist mal ’ne Lady, bei der Wolf nich dazu gekommen ist, sie zu … Sie hatte ’nen Dolch dabei und hat ihn einem von Wolfs Männern in den Hals gerammt, als der vorne am Wagen hochgeklettert ist –
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