Der König von Luxor
ich zuerst an einen Drachen aus dem Märchen oder an irgendein Fabelwesen, aber im Näherkommen erschienen mir die Bewegungen doch eher wie die eines Radfahrers. Du hast nie wieder einen Versuch unternommen. Warum nicht, Howard?«
»Ich habe mich damals geschämt wie noch nie in meinem Leben. Und wenn ich daran denke, schäme ich mich noch heute. Es war schon schlimm genug, daß ich ausgerechnet vor Ihren Füßen eine Bruchlandung machte; aber dann waren Sie auch noch in Begleitung dieses Chambers. Miss Jones, mußten Sie mir das antun?«
Sarah drehte den Kopf nach hinten und küßte Howard: »Mein armer Junge, habe ich dich damals so verletzt?«
»Wirklich, Miss Jones«, ereiferte sich Carter, »die körperlichen Schmerzen, die ich damals verspürte, waren harmlos im Vergleich zu der Demütigung, die ich empfand. Seit Wochen bemühte ich mich damals, von Ihnen als Mann wahrgenommen zu werden, und um das zu erreichen, wollte ich möglichst erwachsen erscheinen. Und dann passierte diese dumme Geschichte.«
»Du willst doch nicht etwa behaupten, daß du schon lange vorher ein Auge auf mich geworfen hattest!«
»Doch, hatte ich.«
»Wüstling!«
Howard lachte. »Jetzt kann ich es ja sagen. Schon während der Schulstunden gab ich mir allergrößte Mühe, einen Blick zwischen die Knöpfe Ihrer Bluse zu werfen. Aufgrund sorgfältiger Beobachtungen konnte ich nämlich in Erfahrung bringen, daß sich dort, sobald Sie sich vornüber neigten, aufregende Einblicke boten. Und um Sie zu dieser Haltung zu bringen, mußte ich, wenn Sie neben mir standen, nur einen Fehler machen und eine Ihrer Fragen falsch beantworten. Ich brauchte also nur zu sagen, ›Die Frau in Weiß‹ habe Charles Dickens geschrieben oder ›Die Schatzinsel‹ sei ein Werk von Wilkie Collins, und schon beugten Sie sich teilnahmsvoll zu mir herab und erklärten mir, was ich längst wußte, daß ›Die Schatzinsel‹ Louis Stevenson geschrieben hat und ›Die Frau in Weiß‹ von Wilkie Collins stammt. In diesen Sekunden vermeintlicher Wissensbildung erkundete ich mit gesenktem Blick den Inhalt Ihrer Bluse, und was ich dabei entdeckte, bedeutete mir mehr als alles Wissen, das Sie mir vermittelt haben.«
Sarah löste sich aus ihrer Haltung, und während sie vor Howard kniete, sah sie den Jungen lange staunend an. Für Howard gab es keinen Anlaß zur Verlegenheit oder sich gar zu schämen. Seine Zuneigung für Sarah war so stark, daß er ihr jeden seiner Gedanken anvertraute. Nur ihr.
Doch seit dem gestrigen Tag schleppte er ein Problem mit sich herum, für das er keine Lösung fand. Ursprünglich und ohne lange nachzudenken hatte er Amhersts Vorschlag, mit Newberry auf Forschungsreise zu gehen, abgelehnt, aber nachdem er die Sache überschlafen und sich mit dem Plan vertraut gemacht hatte, war ihm bewußt geworden, welche Chance das Angebot Seiner Lordschaft bedeutete. Vielleicht würde er, der Hilfszeichner von Didlington Hall, eines Tages ein berühmter Archäologe?
Aber dann hatte der Gedanke an Sarah Jones alle Überlegungen im Keim erstickt. Howard konnte sich ein Leben ohne Sarah nicht mehr vorstellen. Undenkbar, daß dreitausend Meilen sie von einander trennten. Nein, er wollte ihr Amhersts Pläne ganz verschweigen, damit diese nicht auch noch für Sarah zur Belastung würden.
»Howard, was hast du?« unterbrach Sarah plötzlich das Schweigen.
»Es ist nichts«, erwiderte Carter, »wirklich!« Als Lügner war Howard Carter unbegabt. Er wußte das. Howard zählte zu den Menschen, die beim Lügen ihr Verhalten verändern und schon äußerlich kundtun, daß sie nicht die Wahrheit sagen. Seine fahrigen, ruckartigen Bewegungen und sein abgewandter Blick waren für Sarah ein deutlicher Hinweis.
»Du verschweigst mir etwas«, sagte sie. »Sieh mich an!«
»Nichts!« entgegnete Howard unwillig und blickte in die Ferne.
»Sieh mich an!« beharrte Sarah. »Hat es mit uns zu tun? Ich will es wissen!«
Plötzlich fuhr er herum und sah Sarah ins Gesicht: »Der Lord will mich auf eine Expedition nach Ägypten schicken. Auf Schatzsuche.«
»Aber das ist doch großartig, Howard!«
»Großartig nennen Sie das? Wissen Sie, wie lange die Expedition dauern soll? – Zwei Jahre! Und wissen Sie, wie weit Ägypten von Didlington Hall entfernt ist? – Dreitausend Meilen! Und wissen Sie, was das bedeuten würde? – Das Ende unserer Beziehung, Miss Jones. Wollen Sie das?«
Sarah fühlte sich schwach in ihrem Innersten. Sie war gespalten, zutiefst verunsichert,
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