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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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höchster Genauigkeit abschätzen konnte und das Bandmaß nur noch zur Kontrolle gebrauchte.
    Zugleich mit dem Übersichtsplan fertigte Howard Detailzeichnungen einzelner Gebäude bis auf wenige Zoll genau. Anhand der Funde, die von den Grabungsarbeitern innerhalb der Grundmauern eines Gebäudes gemacht wurden, und nach Rücksprache mit Flinders Petrie wagte Carter sogar, den einzelnen Gebäuden Namen zu geben.
    Carters Pläne hatten inzwischen in Umfang und Format eine Größe erreicht, daß er Mühe hatte, alle Blätter in einer Mappe zu tragen. Selima erbot sich, bei Howards langen Fußmärschen behilflich zu sein. Das nubische Mädchen hatte sich bei den Engländern gut eingelebt, und natürlich war ihm nicht verborgen geblieben, daß das Abenteuer von Tell el-Amarna in wenigen Tagen zu Ende sein sollte.
    »Carter-Effendi«, sagte Selima auf dem Heimweg nach einem langen, arbeitsreichen Tag, »gehst du auch zurück nach England?«
    Howard lächelte verlegen. »Nein, Selima, für mich ist in England kein Platz mehr. Ich bleibe in Ägypten.«
    Eine Weile stapften beide schweigend nebeneinander her. Dann meinte Selima: »Du liebst dieses Land, nicht wahr, Carter-Effendi? Liebst du Ägypten mehr als England?«
    »Das ist nicht die Frage, Selima. Ich habe meine Gründe, warum ich nicht nach England zurückkehren will.«
    Selima hob den Zeigefinger und rief: »Ah, ich verstehe, du hast Angst vor Polizei!«
    »Du glaubst, ich hätte etwas ausgefressen? Nein, da kann ich dich beruhigen. Das ist nicht der Grund, warum ich nicht nach England zurück will.«
    »Dann ich weiß!« Selima stach erneut mit dem Zeigefinger in die Luft.
    »Nichts weißt du!«
    »Bestimmt steckt eine Frau dahinter. Stimmt’s, Carter-Effendi?«
    Zuerst schwieg Howard; aber weil er ahnte, daß Selima nicht lockerlassen würde, erwiderte er schließlich: »Ja, eine Frau ist der Grund, warum ich nicht nach England zurückkehren möchte. Bist du jetzt zufrieden?«
    Selima nickte verständnisvoll, ja ihr Gesichtsausdruck verriet sogar etwas von Traurigkeit. »Oje«, meinte sie schließlich, »oje, oje.«
    Als das Grabungshaus in Sichtweite kam, blieb das Mädchen plötzlich stehen und sah Howard von der Seite an. »War sie nicht untertänig?«
    »Untertänig?«
    »Nun ja, Frau muß sein dem Mann untertänig, sonst…« Dabei machte sie eine Handbewegung, als schwinge sie eine Peitsche. »Mußt aber nicht traurig sein, Carter-Effendi! Gibt genug Frauen auf der Welt.«
    Carter lachte und setzte den Weg fort, als Selima erneut innehielt. »Carter-Effendi, ist England ein schönes Land?«
    »O ja«, erwiderte Howard, »ein sehr, sehr schönes Land.«
    »Schöner als Nubien?«
    »Ich kenne Nubien nicht, Selima. Aber sicher ist England ganz anders als Nubien. Es gibt keine Wüsten, alles ist grün. Manche Städte haben mehr Einwohner als ganz Nubien. Sie sprechen eine fremde Sprache. Und im Winter ist es so kalt, daß die Menschen mehrere Kleidungsstücke übereinander tragen. Kannst du dir das vorstellen?«
    Selima verzog das Gesicht. »Nein!« erwiderte sie knapp.
    Am nächsten Morgen war Selima verschwunden. Percy Newberry, dem Frühaufsteher, war ihre Abwesenheit zuerst aufgefallen; denn Selima verbrachte die Nächte auf einer Küchenbank. Keine Macht der Welt hatte sie dazu gebracht, sich in einem bettähnlichen Mobiliar zur Ruhe zu legen.
    Mrs. Petrie reagierte aufgebracht: »Man kann diesen Eingeborenen einfach nicht trauen! Ich würde mich nicht wundern, wenn sie uns bestohlen hätte. Flinders, Percy, Howard! Seht nach, ob irgend etwas fehlt. Wir müssen die Polizei verständigen.«
    Es bedurfte großer Anstrengungen und einer Durchsuchung des ganzen Hauses, um Mrs. Petrie zu besänftigen. Es fehlte nichts.
    »Undankbares Ding!« schimpfte Hilda Petrie, »ich hatte ihr versprochen, sie nach England mitzunehmen. Sie hätte sich im Haushalt nützlich machen können. So eine Chance bietet sich dem Mädchen nie mehr!«
    Flinders Petrie, den Selimas Verschwinden weit weniger verstimmte als seine Frau, hob die Schultern und sagte: »Ach weißt du, Hilda, vielleicht betrachtete sie das gar nicht als Chance. Vielleicht hatte sie Angst vor einem Leben in einem unbekannten, fernen Land.«
    Carter nickte zustimmend. »Ja, vielleicht hatte sie Angst.«
    Am nächsten Tag zahlte Petrie die Arbeiter aus. Rais Mehmed Zaki hielt nur ein paar von ihnen zurück, welche die wichtigsten Grabungsfunde in Holzkisten verpackten. Petrie hatte sie in Minia anfertigen lassen.

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