Der König von Luxor
zum Vorschein kam, die Haare strohig und mit Staub behaftet. Aber der furchtbarste Anblick waren die Augen, die geöffneten, eingeschrumpelten Augen, in deren Mitte ein kleiner dunkler Punkt wie eine schwarze Glasperle die Pupille markierte. Trotz des makaberen Aussehens schien die Mumie zu leben. Deutlich erkannte Evelyn das Zucken der Augenlider, von denen man annehmen mußte, sie würden jeden Augenblick zu Staub zerfallen.
Evelyn war zu bestürzt, entsetzt, verwirrt, wie vor den Kopf geschlagen, als daß sie sich imstande sah, ihre Gedanken zu ordnen. Sie zweifelte an ihrem Verstand und daran, ob sie wachte oder träumte. Sie wollte sich losreißen, fortlaufen, aber eine unsichtbare Kraft hielt sie fest am Krankenbett ihres Vaters. Es gelang ihr nicht einmal, um Hilfe zu rufen: Ihre Stimme versagte.
Es bedurfte einer unsagbaren Kraftanstrengung, das nasse Tuch zu ergreifen und über den Kopf der Mumie zu ziehen. Und kaum war das geschehen, schien der schreckliche Bann gebrochen. Evelyn sprang auf. Unter dem Tuch vernahm sie noch die müde Stimme ihres Vaters: »Ich habe seinen Ruf vernommen, ich folge ihm.« Aber Evelyn reagierte nicht. Blind um sich schlagend und mit einem langanhaltenden, schrillen Schrei stürzte sie aus dem Zimmer auf den Flur des Hotels.
Im Nu sammelten sich Hotelgäste, Etagenkellner und übriges Personal, um zu erfahren, was vorgefallen war. Aber noch bevor Evelyn ihre Sprache wiedergefunden hatte, verlöschten im »Continental-Savoy« alle Lichter.
Frauen kreischten hysterisch. Männer verbarrikadierten sich in der Meinung, es handele sich um einen Überfall ägyptischer Nationalisten, in ihren Zimmern. Erst ein Blick aus dem Fenster belehrte sie eines Besseren: Ganz Kairo lag im Dunkeln.
Die aufgebrachten Hotelgäste auf den Korridoren wurden mit Kerzen ausgestattet. Aber ganz von selbst und ohne jedes Zutun ging in Kairo das elektrische Licht wieder an. Evelyn weinte. Sie war mit ihren Nerven am Ende. Sie wußte nicht, hatte sie geträumt oder hatte sich das furchtbare Erlebnis wirklich vor ihren Augen abgespielt.
Ein Etagenkellner fand Evelyn mit geschlossenen Augen an die Türe ihres Zimmers gelehnt: »Entschuldigen Sie, Madam, ist Ihnen nicht gut?«
Freundlich lachte ihr der weißgekleidete Ägypter entgegen. In Panik klammerte sie sich am Arm des Etagenkellners fest, und ängstlich flüsterte sie: »Sie müssen mir beistehen, ich bitte Sie!«
»Selbstverständlich, Madam«, erwiderte der Ägypter, »was kann ich für Sie tun?«
Evelyn deutete auf die Tür. »Würden Sie gemeinsam mit mir dieses Zimmer betreten?«
Der Etagenkellner begriff nicht, warum die englische Lady um einen einfachen Vorgang so viel Aufhebens machte. Neugierig drückte er die Klinke nieder und trat ein.
»Mein Vater«, erklärte Evelyn, als der Ägypter den unter einem feuchten Tuch verborgenen Lord liegen sah. »Würden Sie ihm bitte das Tuch vom Gesicht nehmen?«
»Wie Sie wünschen, Madam.« Der Etagenkellner trat hinzu und zog Carnarvon das Tuch vom Gesicht.
Mit einer zeitlichen Verzögerung – Evelyn wartete auf einen Schrei, den der Ägypter ausstoßen würde – wagte sie, den Blick ihrem Vater zuzuwenden. Der Lord hielt die Augen starr zur Decke gerichtet. Sein Gesicht wirkte fahl. Evelyn nahm seine Hand. Lord Carnarvon war tot.
»Papa«, sagte sie leise. »Papa!«
K APITEL 32
Am Cunard-Kai von Southampton drängten sich die Menschen. Jedesmal, wenn die »Berengaria« zu ihrer Sechs-Tage-Reise nach New York ablegte, fanden sich doppelt so viele Schaulustige ein wie beim Ablegen der »Aquitania« oder der »Mauretania«, denn die »Berengaria« war ein ganz besonderes Schiff, nicht das größte der Cunard-Linie, aber das schillerndste gewiß. Jeder, der auf diesem Ozeandampfer reiste, war prominent – sogar ein Hund.
Wann hatte man schon Gelegenheit, den »Prince of Wales«, der auf dem Schiff eine eigene Suite besaß, aus nächster Nähe zu sehen, den Maharadscha von Jaipur, den belgischen König, bekannte Lordschaften, die Vanderbilts und Rockefellers, Primadonnen und Schauspieler von beiden Seiten des Atlantiks, kurz – die große Welt?
Seit dem frühen Morgen warteten die Gaffer, sie kamen in Scharen, gleich nachdem über tausend Auswanderer im Zwischendeck verstaut worden waren, um zu sehen, wie die Rolls-Royces, die Daimlers, Minervas und Duesenbergs mit wuchtigen Ladebalken an Bord gehievt wurden und in den Ladeluken verschwanden.
Kurz nach zehn trafen die ersten
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