Der König von Luxor
Junge kaum noch Nahrung zu sich nahm und in kurzer Zeit so viel an Gewicht verlor, daß seine Kleider an ihm herunterhingen wie Fahnen nach einem Gewitterregen an den Stangen.
Sogar Miss Jones, welche von den alten Damen in ihrer Not zuhilfe gerufen wurde, erhielt eine Abfuhr von Howard und keine Erlaubnis, den Schuppen zu betreten. Nur soviel ließ er verlauten: James Watt habe fünfundzwanzig Jahre an der Erfindung der Dampfmaschine gearbeitet. Man möge ihn doch drei Wochen in Ruhe, lassen. Dann würde die Menschheit überrascht sein.
An einem Sonntag, kurz nach Sonnenaufgang, belud Carter sein Fahrrad mit den Flugkonstruktionen. Unter großen Mühen band er die überdimensionalen Schmetterlingsflügel auf beide Seiten und schob – für den Fahrer bot sich kein Platz mehr – das seltsam anmutende Gefährt unbemerkt aus dem Schuppen. Über die Wiesen, welche sich nach Norden ausdehnten und auf denen zu früher Stunde noch der Tau lag, gelangte er mit seiner kostbaren Fracht auf den schmalen Fuhrweg, der von Little Dunham nach Castle Acre führt. In der Ruine des Klosters fühlte er sich fürs erste sicher vor neugierigen Blicken und Fragen.
Für das Zusammenbauen seiner Flugkonstruktion hatte Howard vier bis fünf Stunden veranschlagt, doch zog der Aufbau sich endlos hin, was zum einen seine Ursache in der Kompliziertheit der Technik hatte, mit welcher der Riesenschmetterling zusammengesetzt wurde, zum anderen wuchs seine Aufregung mit jedem Teil, das er seiner Bestimmung zuführte. Das bremste seine Arbeit. An der Flugfähigkeit seines Schmetterlings zweifelte Carter keinen Augenblick, war er doch ein getreues Abbild der Natur – wenn man einmal von dem Fahrrad absah, das die sechs dünnen Beine des Insekts ersetzte. Nein, die einzige Frage, welche den Pionier jetzt noch beschäftigte, war die, ob sein Körpergewicht, das er in den vergangenen drei Wochen um ein Beträchtliches reduziert hatte, den Anforderungen des Fliegens entsprechen würde.
An der Längsstange des Fahrrades hatte er bereits die Flügel angebracht, nun folgte die komplizierteste Aufgabe: Mit Hilfe zweier zusätzlicher Pedale, die Howard an der Vorderachse des Fahrrades montiert hatte und die jeweils über eine Stange mit den Flügeln verbunden waren, mußte der Flügelschlag nachgeahmt werden – ein Vorhaben, das nicht nur in der Beschreibung umständlich und verwirrend anmutet. Jedenfalls strebte Carter das Ziel an, sich mit um so heftigerem Flügelschlag von der Erde abzuheben, je schneller er mit dem Fahrrad fuhr.
Um die Startgeschwindigkeit seines riesigen Schmetterlings zu erhöhen, wählte Carter die Anhöhe von Castle Acre aus, deren Bodenbeschaffenheit ihm nicht fremd war. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Carter atmete tief durch und fuhr los.
Wie lautlos elegant bewegten sich doch Schmetterlinge durch die Natur! Carters Rieseninsekt rumpelte, hopste, wackelte und klapperte ungestüm zu Tal, und selbst wenn Howard gewollt hätte, es gab keine Gelegenheit mehr, das Unternehmen abzubrechen. Da sein Schmetterling jedoch noch immer nicht abheben wollte, trat Carter um so heftiger in die Pedale.
Eine Bodenwelle, so unscheinbar, daß sie ein Flugunkundiger überhaupt nicht wahrgenommen hätte, brachte Carter zum Verzücken, indem sie den Flieger anhob und, länger als es einem kurzen Luftsprung zukam, schweben ließ – welch ein Glücksgefühl für einen Pionier!
Doch Glück und Leid sind Weggefährten, und Carters Entzücken währte wenig mehr als eine Sekunde; denn als sein Riesenschmetterling den Gesetzen der Natur gehorchend wieder auf der Erde Fuß faßte, geschah dies mit solcher Heftigkeit, daß die Verspannungen der Flügel einknickten wie Streichhölzer, und auch die Antriebsstangen über den Pedalen hielten dem Aufprall nicht stand. Howard nahm gerade noch die Sonntagsspaziergänger wahr, welche schreiend auseinanderstoben, weil seine Bremsen versagten oder sein Verstand. Er schlug einen Salto über den Lenker und landete hart auf dem Rasen, aber mit dem Gefühl, daß noch alles an ihm heil sei. Dann senkte sich über ihn ein milchigweißer Schleier.
Als er wieder zu sich kam, blickte Howard Carter in Miss Jones’ banges Gesicht. Neben ihr erkannte er Charles Chambers. Unbemerkt hatten beide während des Sonntagsspaziergangs seine Flugversuche beobachtet.
»Tut dir was weh?« fragte Miss Jones besorgt.
Obwohl es ihm vorkam, als habe sie ihn gerade ins Leben zurückgeholt, und obwohl er am ganzen Körper zitterte und
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